Glückliche Ehe
Kamera, das dritte war nachdenklich. Alle schienen ganz und gar unbefangen. Obwohl sie in die Kamera sahen und offenkundig wussten, dass sie fotografiert wurden, war es, als blickten sie direkt in die Seele des Betrachters. Das Bild vermittelte Enrique das Gefühl, die Kinder gut zu kennen: Das da war immer ein bisschen traurig, das da zu Streichen aufgelegt, das da anhänglich.
Die Fotos waren eindeutig von jemandem gemacht worden, der nicht nur ein gutes Auge hatte und die Technik beherrschte, sondern auch jede Menge Erfahrung besaß. Die europäische Kulisse und das offensichtliche Vertrauen der abgebildeten Personen in den Fotografen überzeugten Enrique, dass der Fotograf ein älterer Mann gewesen sein musste. Er hatte Angst, dass er sich blamieren würde, wenn er zugab, dass er diese großartigen Fotos nicht kannte. Bestimmt stammten sie von jemandem wie Robert Capa oder einem genialen Italiener oder Franzosen, aber er war sich nicht sicher, wer für welche Art Fotos berühmt war. Er hatte nie hingehört, wenn sich seine Eltern und älteren Geschwister über Atget und Cartier-Bresson unterhielten. Gespräche über Fotografie und Filme langweilten Enrique unendlich, obwohl er beide Medien mochte. Einen Kinobesuch an einem Werktagnachmittag genoss er fast so sehr wie das Masturbieren, aber wie konnten sich diese mechanischen Tricks – das Wechseln von Objektiven, das Manipulieren von Licht und Schatten – mit dem messen, was Joyce als das Höchste in der Kunst ausgemacht hatte: dem Roman? Malerei, Bildhauerei, Theater waren bedeutende Kunstformen – aber etwas, das aus einem Apparat kam? Enrique mochte Apparate, gerade deshalb, weil sie, wenn man sich ihnen nur sorgfältig widmete, irgendwann taten, was man von ihnen wollte. Aber sein Gehirn? So viele Stunden er auch mit Schreiben zubrachte, konnte er sich doch nie sicher sein, dass sein Geist allein durch eifriges Bemühen einen soliden Satz hervorbringen würde, geschweige denn wirklich auszudrücken vermochte, was er in der Phantasie sah.
Aber diese Fotos waren großartig. Enrique wünschte, er könnte Margaret damit beeindrucken, dass er den Fotografen kannte. Offensichtlich bedeuteten sie ihr etwas. Sie waren schön gerahmt, mit ordentlichen Passepartouts. Vielleicht hatte sie ja keinen Ehrgeiz im Leben, aber daran, wosie das Gemälde und wo sie diese Fotos aufgehängt hatte, sah man, dass sie zwischen ihrem dilettantischen Erzeugnis und dem Ergebnis unerbittlichen Perfektionsstrebens zu unterscheiden wusste.
»Die sind toll«, sagte er, als sie aus dem Bad zurück war, teils, um auszudrücken, was er empfand, teils aber auch, damit sie nicht auf die Idee kam, dass er jetzt doch allmählich nach Hause gehen könne.
»Oh …« Sie starrte auf die gerahmten Fotografien, als hätte sie deren Existenz völlig vergessen. »Danke …«, sagte sie und fügte hinzu: »Italien ist toll.«
»Italien?«, wiederholte Enrique. Irgendwann hatte sie ihm erzählt, dass sie ein Semester bei einer italienischen Familie verbracht habe. Einen Moment war er sich unsicher. Hatte doch sie die Fotos gemacht? Nein, wahrscheinlich hatte sie sie dort gekauft. Er fragte lieber nur vorsichtig: »Die sind also in Italien aufgenommen?«
»Ja …«, sagte sie wieder etwas abwesend, als dächte sie an ihre Zeit dort zurück. Sie nahm ihren Sofaplatz von vorhin wieder ein, und er tat es ihr nach. »Ich wünschte, ich hätte mehr gemacht.« Sie waren von ihr. Er war zutiefst verblüfft: Die Fotos waren so gut, sie war stolz genug darauf, um sie an exponierter Stelle aufzuhängen, und doch hatte sie bei ihren stundenlangen Gesprächen kein Wort davon gesagt, dass Fotografieren eine Ambition oder auch nur ein Hobby von ihr war. »Ich habe letzten Sommer einen Kurs im Entwickeln gemacht.« Sie lachte und sah ihn argwöhnisch an, während sie gestand: »Du musst mich für eine Rundumdilettantin halten, weil ich in diese ganzen albernen Kurse gehe, aber es macht Spaß. Ich probiere gern Sachen aus.«
»Ich halte dich nicht für eine Rundumdilettantin!«, log Enrique. »Ich lerne auch gern. Ich bin neidisch.« Das allerdings war die Wahrheit. Er beneidete sie darum, dass sie etwas über Stepptanz, Fotografieren, Lithographie,Französisch, Schauspielerei gelernt hatte. Auch er wollte so viel wie möglich darüber erfahren, wie die Welt funktionierte. Allerdings nicht mit einem so sinnlosen Ziel wie dem, Spaß zu haben. Er wollte Bescheid wissen, um Leser zu beeindrucken und in das
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