Glücksfall
Jay.
Ich ging vor und drückte wieder auf den Knopf, und wieder schwang sich die Kamera über mir in Position. Wahr scheinlich wurde sie von einem Bewegungsmelder aktiviert und nicht von einem Menschen bedient. Ich wusste nicht, ob das gut oder schlecht war.
Das Tor öffnete sich auch diesmal nicht, niemand sprach zu uns, und nach einer Weile drückte ich erneut auf die Klingel, diesmal länger. Noch vier- oder fünfmal wiederholte ich das Ganze, aber nichts geschah.
»Wenn jemand da ist«, sagte ich, »wollen sie uns wohl nicht reinlassen.«
»Was machen wir jetzt?«, fragte Jay.
Na ja. Ich hatte ein kleines elektronisches Gerät dabei. Damit ließ sich das Tor vielleicht öffnen. Vielleicht aber auch nicht. Ich hatte keine Ahnung von Elektronik. Ich wusste nur, dass mein kleines Gerät manche Tore öffnete und manche nicht. Und manchmal legte es ein Tor vollends lahm, sodass nichts, kein Code, kein Drücken von Tasten im Haus es öffnen konnte, und dann musste jemand kommen und die gesamte Anlage neu programmieren.
Wenn das hier passierte, müssten wir eben über die Mauer klettern. Ich holte mein kleines Gerät aus der Tasche und hielt es an die Stelle, wo ich das Schloss vermutete, dann drückte ich auf den Knopf, und das Tor öffnete sich langsam und beinahe geräuschlos. Ich atmete erleichtert auf.
Wir setzten uns schnell ins Auto und fuhren auf das Gelände. Ein Scheinwerfer wie auf einem Gefängnishof wurde durch uns aktiviert und blendete uns mit seinem Licht. Und dann sahen wir vor uns das Haus.
Nicht riesig. Eher mittelgroß. Aber sehr beeindruckend. Ein Holzhaus im Stil von Frank Lloyd Wright mit einer gläsernen Front über zwei Stockwerke und einer Veranda mit Blick über den See.
Wir hielten beim Eingang, ich stieg aus und analysierte blitzschnell, was ich sah. Nirgendwo ein Hinweis auf ein Auto. Auch kein Lebenszeichen. Das Haus lag im Dunkeln, aber das war kein Grund, entmutigt zu sein. Wayne und Gloria hatten vielleicht das Licht ausgeschaltet und sich hinter der Couch versteckt, als sie uns am Tor gehört hatten.
Wieder schalteten sich durch Bewegung aktivierte Lampen an und überfluteten uns mit grellem Licht, und ich drückte mein Gesicht an ein Fenster und versuchte ins Innere des Hauses zu spähen. Ich sah ein Wohnzimmer, das in Braun, Rot und Orange gehalten war. Anscheinend hatte der Innenarchitekt ein Wildwest-Thema gewählt. Auf dem Dielenboden lagen Tierfelle, der mannshohe Kamin war aus rau behauenem Stein. An der Wand hingen Kuhhörner, und überall gab es Dinge, die mit Pferden zu tun hatten. Auf den Ledersofas lagen grob gewebte Decken, und ein Objekt sah aus wie ein Zaumzeug. Dekorative Metallteile – Steigbügel vielleicht? Zügel? – hingen von der Decke. Das Hässlichste aber war ein dreibeiniger Schemel mit einem Sitz, der aus einem alten Sattel gefertigt war.
Allerdings keine Spur von Wayne. Oder überhaupt von menschlicher Anwesenheit. Aber vielleicht konnte man in einem so abstoßenden Zimmer auch nicht damit rechnen, Menschen anzutreffen.
Ich war unschlüssig, was wir jetzt tun sollten. Wir hatten keinen Plan. Wir waren so lange durch die leere Landschaft gefahren, dass ich zu der Überzeugung gekommen war, wir würden das Haus niemals finden, würden nie an diesen Punkt gelangen.
Plötzlich hatte ich eine Idee. »Ruf ihn an«, sagte ich. »Ruf ihn an, und wir versuchen, ihn zum Rauskommen zu überreden.«
»Okay.« Aber als Jay auf sein Handy blickte, sagte er: »Kein Empfang.«
Ich nahm meins. Auch kein Empfang. Was für ein scheuß liches Gefühl.
»Wir müssen ins Haus rein und mit ihm sprechen«, sagte Jay. »Wahrscheinlich ist er oben, in einem der Schlafzimmer. Soll ich mal raufrufen?«
»Moment, lass mich überlegen – gut, ja, mach.«
»Wayne!«, brüllte Jay. » WAYNE! Jay hier.« In der stillen, reinen Luft klang seine Stimme erstaunlich laut. »Hör zu, Wayne, alles ist okay, du hast nichts SCHLIMMES gemacht. Wir können es KLÄREN . Komm einfach RAUS .«
Das Schweigen – das Ausbleiben einer Antwort – hallte in der Seeluft wider. Auf mich wirkt die Luft um einen See immer ungewöhnlich still und geradezu gespenstisch, und hier war dieser Eindruck besonders stark. Ich gebe ohne Weiteres zu, dass ich Seen noch nie besonders mochte, ich habe sie immer ein bisschen, wie soll ich sagen, selbstgefällig gefunden. Als wüssten sie alles über uns und wir nichts über sie. Seen hielten sich bedeckt , das war meine Meinung. Hielten die Karten eng
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