Glücksfall
Außerdem weiß man, dass die chemischen Substanzen schuld sind. Man selbst kann nichts dafür.
Beim letzten Mal habe ich eines Abends versucht, den Horror zu bannen, indem ich mich besinnungslos betrank, aber es nützte gar nichts. Ich hob nicht ab, ich konnte der Schwärze nicht entkommen, und der nächste Morgen war der schlimmste meines Lebens. Ich hatte das Gefühl, als wäre ich über Nacht in ein Loch gefallen und ungefähr tausend Stockwerke tief hinabgestürzt. Obwohl es auch vorher schon schlimm gewesen war, hatte ich mir dennoch nicht vorstellen können, dass es mir je so schlecht gehen würde. Es ist ja nur ein Kater, sagte ich mir. Du musst nur diesen einen Tag überstehen, dann geht es vorüber.
Aber es ging nicht vorüber, ich blieb tausend Stockwerke unter der Erde, und danach vermied ich aus Angst, mich wieder zu betrinken.
Ich umklammerte das Lenkrad und betete inbrünstig, dass ich nicht wieder in diese Hölle hinabsteigen müsste. Ich hatte Angst vor allem, was das mit sich brachte – die Medi kamente, die keine Wirkung zeigten, die Gewichtszunahme, die ständigen Selbstmordgedanken, die Yoga-Kurse. Schlimmer noch als die Yoga-Kurse waren die Idioten, die sie leiteten und in ihren Trainingshosen mit Gummizug irgendwas von »Herzzentrum« schwafelten …
Ungefähr bei dem Gedanken brach die Verbindung zu dem Lokalsender ab. Wir fuhren in der Stille weiter, bis es mir weniger unangenehm schien, mit Parker zu sprechen, als meinen Gedanken nachzuhängen.
»Was hast du im letzten Jahr gemacht?«, fragte ich ihn.
»Nichts.«
Ich schnaufte verächtlich. Für Jay Parker war es unmög lich, nichts zu tun, er war immer auf Achse. Mit ihm zusam men zu sein war wie eine Fahrt mit der Achterbahn – aufregend, das ja, aber nach einer Weile wurde einem schlecht.
»Ich meine das ernst«, sagte er. »Ich habe nichts gemacht. Einen Monat lang bin ich nicht aufgestanden.« Er blickte hinaus auf die leere Landschaft. »Ich war vernichtet. Ich hatte keinen Antrieb. Ich habe neun Monate nicht gearbeitet. Dieser Auftrag mit den Laddz ist der erste Job seitdem.«
Also, von mir brauchte er sich kein Mitleid zu erhoffen.
Ich kam wieder auf das Thema zurück, das mir keine Ruhe ließ. »Warum wolltest du nicht, dass ich zu John Joseph etwas über Docker sage? Was hast du vor?«
»Nichts. Ich wollte einfach … na ja … es ist kindisch. Ich wollte etwas wissen, was die anderen nicht wissen. Für ein Weilchen wenigstens.«
»Du hast etwas vor«, sagte ich. »Du verfolgst noch etwas anderes. Vergiss nicht, dass ich dich kenne. Du heckst doch immer irgendwas aus.«
»Das stimmt nicht. Ich bin nicht mehr so.« Er nahm meine Hand und zwang mich, ihn anzusehen. Seine Augen blickten dunkel und aufrichtig. »Es ist wahr, Helen, ich bin jetzt anders.«
Verärgert schüttelte ich ihn ab. »Verdammt, lass das, sonst baue ich noch einen Unfall.«
Vor uns in der geisterhaften Landschaft kam ein Gebäude in Sicht. »Ist das eine Tankstelle? Ich brauche eine Cola.«
Aber die Tankstelle war geschlossen. Es sah aus, als wäre sie seit Jahren geschlossen. Seit 1950 ungefähr. Abblätternde Farbe, verblichenes Rot, eine Atmosphäre trostloser Verlassenheit.
Ich stieg trotzdem aus. Ich musste telefonieren, ohne dass Jay Parker mir im Nacken saß. Ich hatte Harry Gilliam in die Sache reingezogen, und da ich jetzt überzeugt war, dass Wayne sich aus freien Stücken versteckt hielt, wollte ich die Aktion mit Harry abblasen.
Harry nahm beim dritten Klingeln ab. Im Hintergrund war lautes Gackern und Krächzen, sodass ich es kaum hörte, als er Hallo sagte.
»Entschuldigung, dass ich Sie bei Ihrem Wohltätigkeitshahnenkampf störe«, sagte ich.
»Worum geht es, Helen?«
»Um das, worüber wir gesprochen haben. Sie brauchen sich nicht mehr um die Sache zu kümmern.«
Es folgte ein langes, von Gackern gefülltes Schweigen.
Dann sagte er: »Haben Sie Ihren Freund gefunden?«
»Nein, das nicht, noch nicht. Aber ich glaube, sein Verschwinden gibt keinen Anlass mehr zu … Sorge.«
Wieder Schweigen. Mehr Gackern. Ich weiß nicht, wie er es schaffte, so bedrohlich zu wirken.
»Ich habe in dieser Sache schon gewisse Auslagen gehabt«, sagte er.
»Das tut mir leid«, sagte ich. »Sehr leid.«
»Sehen Sie sich vor, Helen.«
»Ist das eine Drohung? Oder ist das eine aufrichtige War nung? Im Moment fällt es mir schwer, Andeutungen zu ver stehen.«
»Ich muss aufhören«, sagte er. »Meine Henne ist gleich dran.«
Kreischendes
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