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Glücksfall

Glücksfall

Titel: Glücksfall Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marian Keyes
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als Staub. Meine Zuversicht verließ mich immer mehr, und ich rannte wieder nach unten. Meine letzte Hoffnung: die Küche.
    Ich sagte mir, dass dort Zeichen von Leben zu finden sein müssten, nämlich in Form von massenhaft frischen Lebensmitteln – Milch, Eier, Käse, Schokoladenkuchen. Aber da war nichts. Und als ich sah, dass der Kühlschrank nicht einmal angeschaltet war, hatte ich das Gefühl, als wäre ich gegen eine Wand gedonnert.
    Es war niemand da. Und es war auch seit langer, langer Zeit niemand hier gewesen.
    Nicht Wayne. Nicht Gloria. Niemand.

32
    D ie Enttäuschung war so entsetzlich groß, dass ich nicht sprechen konnte. Jay auch nicht.
    Alle Dringlichkeit hatte sich in nichts aufgelöst, und wir gingen wie in Trance auf die Veranda und blickten auf das stille, schwarze Wasser des Sees.
    Lange Zeit starrten wir schweigend in die tintenschwarze Tiefe.
    »Komisch«, sagte ich. »Es sieht wirklich aus wie Tinte. Es hat dieselbe Textur, irgendwie dickflüssig.«
    »Man könnte darin ertrinken«, sagte Jay. »Im Fernsehen wird immer darauf hingewiesen, wie leicht es ist zu ertrinken.«
    »Das ist ein Irrtum«, entgegnete ich. »Ertrinken ist sehr schwierig.«
    Ich sollte es wissen.
    Ich hatte damals, als ich es versucht hatte, an alles ge dacht, und es hatte trotzdem nicht geklappt. Ich hatte sogar eine Tasche gepackt. Ich hatte einen Rucksack mit kleinen Hanteln gefüllt, die ich in einem anderen Leben gekauft hatte, als mir die Festigkeit meiner Oberarme noch wichtig gewesen war. Ich hatte mir Dosen mit Erdbeeren in meine Jackentaschen gesteckt und meine schwersten Stiefel getragen. Ich hatte bis Mitternacht gewartet und war dann bis zum Ende des Dún-Laoghaire-Piers gegangen, die ganze Meile, so weit weg vom Land und von den Menschen wie nur möglich, und war die schlüpfrigen, algenbewachsenen Steinstufen ins schwarze Wasser hinabgestiegen.
    Das Wasser war so kalt, dass ich zögerte – nur einen Moment lang –, aber der größte Schock war, dass es mir nur bis zum Bauch reichte. Ich hatte damit gerechnet, dass das Wasser mich überspülen und hinaustragen würde, dorthin, wo es keine Schmerzen gab.
    Beim Allmächtigen! Würde das Leben mich bis zum bitteren Ende demütigen?
    Ich bot ihm die Stirn und bewegte mich auf das offene Meer zu, wo das Wasser tiefer war – tiefer sein musste, wie sonst sollten die großen Fähren da fahren können? –, aber wegen der Gewichte in meinen Taschen kam ich nur sehr langsam vorwärts.
    »He!«, rief eine Frauenstimme vom Pier. »Sie da, im Wasser, was machen Sie da? Ist alles in Ordnung?«
    »Bestens«, sagte ich. »Ich will nur ein bisschen schwimmen.«
    Offensichtlich führte sie ihren Hund spazieren. Warum würde sie sonst um diese Zeit am Ende des Piers sein?
    Ich bewegte mich weiter, langsam, mühselig, und hoffte irgendwann zu straucheln und in die Tiefe gezogen zu werden. Aber das Wasser blieb flach. Und mir wurde schrecklich kalt. Meine Kiefer schlugen unkontrollierbar aufeinander, meine Füße und Beine fühlten sich dick und taub an. Vielleicht wäre das der Verlauf. Statt zu ertrinken, würde mein Körper immer mehr erkalten, bis ich an Unterkühlung starb. Mir war es egal, wie es passierte, Hauptsache, es passierte.
    Stimmen drangen durch die kalte, stille Nacht zu mir. Menschen, die ich nicht sehen konnte, sprachen über mich.
    »… da draußen im Wasser. Da!«
    Eine männliche Stimme: »Ich habe eine Taschenlampe.«
    Ein Hund bellte, ein Lichtstrahl streifte über die Wasserfläche und landete auf meinem Kopf. Allmächtiger! Warum konnte sich ein Mensch nicht mal in Ruhe umbringen?
    »Ist alles in Ordnung?« Der Mann mit der Taschenlampe klang besorgt.
    »Ich schwimme nur«, rief ich so selbstbewusst wie möglich. »Lassen Sie mich in Ruhe. Kümmern Sie sich um Ihren Hund.«
    Ein zweiter Mann sprach. »Sie schwimmt nicht, sie will sich umbringen.«
    »Wirklich?«
    »Es ist dunkel, es ist eisig. Sie ist voll bekleidet, sie will sich umbringen.«
    »Dann sollten wir sie besser rausholen.«
    Im nächsten Moment sprangen die beiden Männer und – was das Äußerste an Demütigung war – auch ihre beiden Hunde die Stufen hinunter und schwammen in meine Richtung. Als sie bei mir waren, zerrte einer der Männer mir den Rucksack von den Schultern und ließ ihn ins Wasser sinken. »Lassen Sie mich in Ruhe«, sagte ich, den Tränen nahe. »Kümmern Sie sich um Ihre eigenen Angelegenheiten.«
    Aber zusammen steuerten sie mich zurück zu den Stufen, die

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