Glücksgriff
Beine aus und stützte sich auf die Ellbogen. In dieser Haltung konnte sie die schwache Wärme der Sonne auf ihrem Gesicht genießen und die Drachen betrachten, die am Himmel ihre bunte Akrobatik vollführten.
Sie blinzelte in die Sonne und betrachtete das Panorama, das sich vor ihr ausbreitete. Dort in der Ferne lag St. Paul’s Cathedral, die in den Himmel zeigte wie eine mit Silikon ausgestopfte Hollywoodbrust. Und Big Ben. Im Osten sah man Canary Wharf und den alten Uhrenturm des Caledonian-Marktes. Im Westen die Schornsteine des Kraftwerkes von Battersea und den Trellick Tower. Himmel, da merkte man, wie groß – und wie wunderschön – London wirklich war.
Doch die ungewohnte Helligkeit der Sonne ließ Tränen in ihre Augen treten. Um sie zu schonen, wandte Miranda ihre Aufmerksamkeit einem alten grünen BMW zu, der langsam auf der Straße unter ihr fuhr. Müßig verfolgte sie ihn mit dem Blick, bis er bremste und in eine Parklücke zurücksetzte. Sekunden später wurde die Beifahrertür aufgestoßen, und ein Junge von ungefähr fünf oder sechs Jahren sprang ins Gras.
Miranda sah zu, wie der Fahrer auf der anderen Seite ausstieg, den Kofferraum öffnete und einen gelb-weißen Drachen herausholte. Von ihrem Blickwinkel aus war das Gesicht nicht zu sehen, doch sie schätzte ihn auf um die dreißig, er war dunkelhaarig wie sein Sohn, und er trug ein weißes Rugby-Shirt und verblichene Jeans.
Noch ein Sonntagsvater, dachte Miranda, der sein Kind zum Drachensteigen mitnimmt, ihm dann einen Burger bei McDonald’s spendiert, bevor er ihn wieder zur verabredeten Zeit bei der Mutter abgibt.
Hampstead Heath war voll von ihnen.
Die in die Höhe schnellende Scheidungsrate hatte das Fast-Food-Geschäft wohl beflügelt.
Während Florence friedlich neben ihr döste, sah sie zu, wie der Junge seinem Dad Befehle zuschrie. Dad war offenbar kein Experte. Während sie auf den Hügel liefen, spulte er die Nylonschnur ab und machte zwei, drei sinnlose Versuche, den Drachen in die Luft zu bekommen.
Miranda grinste spöttisch, als er ihn wieder hochwarf und diesmal nur knapp an einer Enthauptung vorbeikam. Sie hörte seinen Sohn abfällig schreien: »Du kannst auch gar nichts! Komm schon, lass mich es versuchen.«
Sie waren jetzt näher und kamen auf sie zu. Der Mann sagte: »Nette Manieren, Eddy, du kommst nach deiner Mutter.«
»Sie sagt, du warst schon immer ein hoffnungsloser Fall. Du kannst nicht mal ein Regal gerade aufstellen.«
»Vielleicht will ich das ja gar nicht. Egal, deine Mutter ist selbst auch nicht so schlau«, gab er zurück. »Frag sie mal, wie oft sie eine Beule in das Auto gefahren hat, wenn sie versucht, es rückwärts in die Garage zu setzen.«
Miranda beobachtete, wie der Junge ungeduldig den Drachen packte. Spielt einen Erwachsenen gegen den anderen aus, dachte sie, und er tat ihr Leid. Armer kleiner Kerl, zwischen zwei streitenden Elternteilen zu sitzen.
Es konnte nicht viel Spaß machen.
Außer … war nicht etwas merkwürdig Vertrautes in der Stimme des Vaters? Eine Vertrautheit, die aus irgendeinem Grund nicht ganz zu dem Mann, der nun ein paar Meter von ihr entfernt stand, passte, und der nun darum kämpfte, ein Stück Schnur zu entwirren, das sich irgendwie um beide Beine gewickelt hatte.
Miranda setzte sich auf, umschlang ihre Knie und schob ihr Beret nach oben, um besser sehen zu können. Sie war sich sicher, dass er kein Kunde des Salons war.
Verdammt, wo habe ich diese Stimme schon gehört?, dachte sie. Und warum habe ich das Gefühl, etwas stimmt da nicht?
Der Drachen schaffte es wunderbarerweise hinauf in den Himmel. Der Junge jubelte entzückt auf und galoppierte noch ein paar Meter den Abhang hoch.
»Du hast es geschafft, du hast es geschafft!«
»Na, wer kann nun gar nichts?«, fragte sein Vater mit einem triumphierenden Lachen.
»Lass ihn nicht abstürzen!«
»Ist in Ordnung, ich hab’s jetzt kapiert. Ich bin eben ein Genie, und du kannst deiner Mutter das erzählen, wenn wir zurück sind.«
Der Wind übernahm nun die Führung und trug den Drachen zur Hügelspitze. Der Mann folgte seinem Sohn und bewegte sich auf Miranda zu. Neben ihr schnarchte Florence friedlich in ihrem Rollstuhl. Er sah zu ihnen herüber und lächelte.
In dem Augenblick, als seine dunklen Augen auf Mirandas trafen, wusste sie es.
O nein, es konnte nicht sein.
Aber es war so.
Er war es.
Der Bettler aus der Brompton Road.
Sie erstarrte. Er lächelte sie immer noch an.
Er hat mich nicht
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