Glückskinder – Warum manche lebenslang Chancen suchen - und andere sie täglich nutzen
Erinnerungsstücke, an die Sie ein Andenken bewahren möchten und fotografieren Sie sie. Dann beauftragen Sie einen Freund mit dem Verkauf der Dinge und bezahlen ihm eine Provision, unter der Bedingung, dass auch die unverkäuflichen Dinge entsorgt werden. Markieren Sie alles, was Sie behalten wollen (Bett, Tisch, Stuhl et cetera), geben sie alles andere zum Verkauf frei und fahren Sie weg. Nach einer Woche kommen Sie wieder und Sie können endlich durchatmen.
Oder Sie gehen zuweilen durch Ihr Haus und sortieren genau hundert Dinge aus. Nicht mehr und nicht weniger. Nehmen Sie einen großen Sack und hören Sie nicht eher auf, bis Sie nicht 100 einzelne Stücke gezählt haben. Das kostet erst mal Überwindung. |38| Aber dann gewöhnen Sie sich daran und wundern sich, wie problemlos die Sachen verschwinden. Und wie wenig Sie sie hinterher vermissen. Den Sack mit Dingen sortieren Sie: wegwerfen, verschenken, eBay. Das machen Sie so lange, bis Sie Ihren Setzkasten des Lebens geleert haben. Dann verkaufen Sie den Setzkasten.
Viele Leute schütteln den Kopf, wenn sie hören, dass ich genau das gemacht habe. Vor allem, wenn sie hören, wie viele teure Sachen ich in den Müll geworfen oder billig weggegeben habe. Ich sage aber: Wegwerfen ist nicht teuer. Aufheben ist teuer. Unbezahlbar teuer.
Als ich noch meine Lebensmitteleinzelhandelsgeschäfte hatte, habe ich oft meine Geburtstagsfeste abends im Geschäft gefeiert. Logisch, näher können Sie gar nicht an der Quelle sein. Dort gab es natürlich immer einen Geschenketisch. Am nächsten Tag ging ich immer an den Tisch, nahm die Geschenke, klebte einen Preis drauf und ab ins Regal. Ich habe all meine Geschenke verkauft. Heute wissen das meine Freunde und bringen gar nichts mehr mit.
Ich brauche nichts. Mehr noch, ich will nichts! Sachen haben zu müssen, die ich nicht will, ist für mich viel schlimmer, als möglicherweise unsympathisch zu wirken, weil der Schenkende sich durch mein Desinteresse an seinem Geschenk brüskiert fühlen könnte. Die Schwierigkeit für die Leute ist, zu verstehen, dass ich nicht am Schenkenden desinteressiert bin, sondern an dem Ding, das ich nicht haben will. Ich weiß, dass das gelinde gesagt unkonventionell ist. Aber all die Sachen interessieren mich eben nicht.
Sie können mich mit 100 000 Euro auf der Maximilianstraße aussetzen, ich würde mir einen Cappuccino kaufen, eventuell noch ein Glas Champagner, aber das war es dann. Ein neuer Geldbeutel? Nur, wenn der alte kaputt ist. Eine neue Uhr? Alle paar Jahre gerne eine schöne, aber dann verkaufe ich vorher die alte.
Und bitte glauben Sie nicht, dass ich im Verzicht lebe. Sie können mir glauben, dass ich versuche, das Leben in vollen Zügen genießen. Ich will Sie auch ermutigen, sich schöne Sachen zu kaufen und zu besitzen. Aber bitte nur die, an denen Sie wirklich Spaß haben. Ich habe keine asketischen Ambitionen, ganz im Gegenteil. Ich will nur die Sekundäremotionen, die an den Dingen hängen, nicht mehr in meinem Leben dulden.
|39| Wir spüren doch längst, dass Konsumgüter keine Glücksgüter sind. Rund 2 000 Jahre vor der Einführung des iPhones kam Plinius dem Älteren die ernüchternde Erkenntnis: »Dinge, die wir besitzen, bewahren selten den Zauber, den sie hatten, als wir sie erstrebten.«
Mit der Antwort »Nein!« auf die Frage, ob wir all das Zeugs brauchen, wird nicht die Forderung nach Selbstgeißelung errichtet. Der Lohn für den Verzicht folgt unmittelbar: Freiheit, Unbeschwertheit, wahre Mobilität. Und der zu entrichtende Preis ist viel niedriger als wir glauben, denn die Freude, die uns die Sachen schenken, ist so gering und so kurzfristig, dass das Loslassen dieses materiellen und geistigen Ballasts immer ein lohnendes Geschäft ist.
Ballast
Denn das Materielle belastet uns nicht auf physische Art, weil es vorhanden ist, sondern durch die Energie, die es uns kostet, die Sachen in unseren Köpfen zu beachten, zu verwalten, die Verantwortung dafür zu übernehmen, das Zeugs zu ordnen, wiederzufinden. Dazu die Emotionen, die an diesen Alltagsreliquien hängen: Durch die Anwesenheit des Dings, an dem sie haften, kommen uns die Emotionen permanent in den Sinn, obwohl das im Moment vielleicht völlig sinnlos ist, und dann müssen wir uns damit auseinander setzen, obwohl wir das gar nicht wollen. Also reine Kopfsache.
Hinzu kommt der immaterielle Ballast. Das sind die Handlungen, die als offene Posten auf ihre Erledigung warten und uns am Hals hängen wie
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