Glückskinder – Warum manche lebenslang Chancen suchen - und andere sie täglich nutzen
ein Mühlstein. Außerdem die Hoffnungen und Erwartungen an unsere Umwelt, die wir aber nur bedingt beeinflussen können.
Dazu gibt es eine Geschichte von einem Mönch in Thailand, der, wie es dort ja üblich ist, durch die Straßen ging und sich das Mittagessen zusammenbettelte, und das häufig bei den immer wieder gleichen Menschen. So kam der Mönch von seiner Tour immer ganz beseelt zurück, weil von einer Spenderin ein besonders lecker zubereitetes Stück Hühnchen mit dabei war. Es war einer seiner täglichen Höhepunkte, sich immer genau auf dieses Hühnchen zu freuen. Und |40| eines Tages, als er wieder in die Stadt ging, war die Spenderin mit diesem leckeren Hühnchen nicht da. Und auch am nächsten Tag und am übernächsten Tag war sie nicht da. Was den Mönch zu vielen Gedanken führte, wo sie denn sei, ob sie verstorben sei, oder ob sie möglicherweise ihre Speise einem anderen Mönch schenken würde. Er war vollkommen fixiert darauf, endlich dieses Hühnchen wieder genießen zu können. Er machte sich Sorgen und ließ zu, dass das Hühnchen ständig in seinem Kopf war und ihn nicht mehr losließ. Bis er eines Tages wieder in die Stadt ging und endlich die Dame mit diesem Hühnchen sah – und da wurde ihm klar, wie sehr mittlerweile das Hühnchen ihn hatte, weil er es haben wollte, wie abhängig er von ihm geworden war. Sodass er beschloss, es nie wieder in seinem Leben zu essen.
Die geistigen Anhängsel all der Sachen, damit verbundene Sekundäremotionen, Unerledigtes – manche Köpfe sehen von innen aus, wie die Messi-Wohnung in den Doku-Soaps auf RTL II. Die Psychologin Bluma Zeigarnik beschrieb als erste einen in der Folge nach ihr benannten Mechanismus. Der Zeigarnik-Effekt besagt grob, dass unerledigte Handlungen besser erinnert werden als erledigte, wir beschäftigen uns andauernd mit ihnen. Unerledigtes lässt uns nicht los.
Das ist ja auch sinnvoll. Auf die Weise vergessen wir sie nicht, vergessen nicht Wichtiges zu erledigen. Problematisch wird es nur, wenn Sie allzu viel Unerledigtes mit sich herumschleppen. Das sind selten große Sachen. Meistens nur die Steuererklärung, der kaputte Fahrradreifen, das Aufräumen der Garage, den Chef endlich auf die Gehaltserhöhung ansprechen und so weiter. Zeigarnik fand heraus, das unser Gehirn wie eine riesige Kommode funktioniert. Immer, wenn wir etwas anfangen, aber nicht zu Ende führen, bleibt eine Schublade offen. Über diese Schublade stolpern wir bei jeder Gelegenheit. Je mehr Schubladen offen stehen, desto weniger können wir uns auf neue Aufgaben konzentrieren. Zu viel Energie fließt ab.
Und es ist unglaublich, wie lange manche Menschen eine Schublade offen stehen lassen. Die Teilnehmer meiner Vorträge fordere ich immer auf, mich gerne auch auf Xing oder Facebook zu adden, oder |41| meinen Vortrag oder meine PowerPoint-Präsentation auf diese Weise anzufordern. Ich bin oft geradezu erschrocken, wenn sich Teilnehmer erst nach vielen Monaten melden. Nicht weil mich das stört. Ich denke immer nur, wie viel Energie muss das kosten, diese – wenn auch kleine – Schublade so lange geöffnet zu halten.
Der Rucksack mit den Erledigungen, die das Verfallsdatum »Sanktnimmerleinstag« tragen, ist zu schwer.
Mit den Schubläden ist es wie mit der Wasserleitung, wenn im Haus alle Hähne offen stehen: Es kommen überall nur noch Rinnsale heraus. Diese verlorene Energie gilt es, zurückzugewinnen. Indem Sie alles erledigen. Oder einen fixen Termin machen, an dem Sie es erledigen. Oder sich von dem Gedanken endgültig trennen, es jemals zu erledigen. Machen, Termin, Vergessen. Das sind drei Optionen. Keine vierte Option, die heißt: »Aufschieben«. Die müssen Sie streichen. Sonst werden Sie die zukünftigen Taten nicht los, die Sie schon heute belasten. Der Rucksack mit den Erledigungen, die das Verfallsdatum »Sanktnimmerleinstag« tragen, ist zu schwer. Es lohnt sich nicht, ihn zu schleppen, er macht nur Sorgen. Er regt uns auf, er zieht Energie.
So ging es mir beispielsweise am 4. April 1989. Damals versammelten sich im Herzen Pekings unweit der Verbotenen Stadt Hunderttausende Studenten, die gegen die grassierende Korruption und für Demokratie demonstrieren wollten. Die Begeisterung der jungen Leute steckte alle an, Bauarbeiter schlossen sich den Demonstranten an, Anwohner versorgten sie mit Lebensmitteln. In die anfänglich noch harmlosen Forderungen mischten sich immer mehr die Rufe nach grundlegenden politischen Reformen. Die
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