Glückskinder – Warum manche lebenslang Chancen suchen - und andere sie täglich nutzen
Demonstration dauerte immer länger und wurde immer größer. Sie war so friedlich, dass sie Angst und Schrecken in den Parteibüros verbreitete. Nach sechs Wochen ließ die Kommunistische Partei rund 200 000 Soldaten rund um Peking stationieren, in der Nacht vom 3. auf den 4. Juni gab sie den Befehl, Panzer auf den Tiananmen-Platz zu schicken. Die Soldaten begannen, auf die friedlichen Demonstranten zu schießen.
|42| Damals, als diese schrecklichen Morde auf dem Platz des himmlischen Friedens stattfanden, fuhr ich mit einem Kollegen im Auto und lauschte erschüttert den Nachrichten. Ich regte mich fürchterlich auf. Mitten in meiner Erregung schaltete er das Radio ab und sagte: »Du hast jetzt zwei Möglichkeiten: Wenn du handeln willst, dann bringe ich dich direkt zum Flughafen. Dann flieg nach Peking und halte die Panzer auf. Oder du lässt jetzt los.«
In Gewissensfragen gibt es keine Verhandlungslösung. Keinen Kompromiss. Entweder Sie wollen etwas tun oder nicht. Ich habe losgelassen. Nicht dass mir die Menschen egal waren und ich dieses Vorgehen nicht zutiefst verurteile. Aber wenn ich mich selbstkritisch hinterfrage, war es mir wohl nicht wichtig genug zu handeln, sonst hätte ich es ja getan.
Ich musste in meinem Leben auch häufig loslassen, weil mich die Sehnsucht nach Neuem dazu getrieben hat. Loslassen, weil ich gezwungen war, es zu tun. Loslassen aus vielen Gründen. Als junger Mann führte ich das Lebensmittelunternehmen meiner Eltern weiter. Leider hatte sich mein Vater bei einem Immobiliengeschäft gehörig verspekuliert und er hatte mit mittlerweile knapp 70 Jahren einige Millionen Minus auf dem Konto. Die operativen Geschäfte liefen zwar immer besser. Jedoch lassen sich mit den Margen des Lebensmittelhandels auch bei hohen Umsätzen nicht schnell große Schuldenberge abbauen.
Nachdem ich mittlerweile relativ erfolgreich gearbeitet hatte, kam einmal die Hausbank zu einem Gespräch. Man wollte zu den signifikanten Verbesserungen gratulieren, und ich wurde freudig darauf hingewiesen, dass ich – wenn ich noch 137 Jahre so weiterarbeiten würde – die Schulden abbezahlt haben würde. 137 Jahre? Sind dann meine Urururenkel schuldenfrei? Das war einfach nur zum Lachen. Ich hatte gar keine Wahl: Also schmiedete ich einen Plan, wie ich in knapp zehn Jahren mindestens 5 Millionen Euro verdienen kann. Und setzte ihn um. Doch dazu musste ich das Lebensmittelgeschäft aufgeben und wieder einmal loslassen. Entgegen all den Emotionen, die an dem von meinen Eltern gegründeten Lebensmittelgeschäft hingen, gab es nur eine vernünftige Entscheidung, so hart sie auch war.
Der Gegner des neuen Glücks scheint mir das Festhalten am alten zu sein.
|43| Der Gegner des neuen Glücks scheint mir das Festhalten am alten zu sein. Wer Chancen entdecken will, wer Neues erobern will, der muss Altes Loslassen. Die reinste Form des Wahnsinns ist es, alles beim Alten zu lassen und gleichzeitig zu hoffen, dass sich etwas ändert – sagte Albert Einstein.
Doch wir wollen immer beides, das Neue bekommen und das Alte bewahren. Wir wollen den neuen Job, ohne die Sicherheit des alten Jobs aufzugeben, die Rendite einer risikoreichen Anlage, ohne auf die Sicherheit zu verzichten, wenn wir das Geld unterm Kopfkissen haben. Wir wollen neue Länder kennenlernen und dabei das Haus nicht verlassen. Wir wollen die neue Frau erobern, ohne die alte zu verlassen, wir wollen die Zukunft ansteuern und dabei die Gegenwart festhalten.
Und kaufen damit Dinge, die wir nicht brauchen, um Leute zu beeindrucken, die wir nicht mögen, mit Geld, das wir nicht haben.
Um Freiheit zu erreichen, müssen wir unsere Sicherheit aufgeben. Doch uns ist die Sicherheit so wichtig, dass wir dafür unsere Freiheit aufgeben. Mit unserem Wunsch nach Sicherheit sind wir Gefängniswärter geworden und ketten uns ein Leben lang an, auch an ein Reihenhaus. So streben wir nach einer Sicherheit, die wir wahrscheinlich nie wirklich erlangen, opfern Freiheit und Selbstbestimmung für ein höheres Einkommen. Und kaufen damit Dinge, die wir nicht brauchen, um Leute zu beeindrucken, die wir nicht mögen, mit Geld, das wir nicht haben.
Menschen sind deshalb nicht in der Lage, Chancen zu ergreifen, weil sie die Hände und Herzen voll haben mit alten Sachen, alten Gewohnheiten, alten Vorgehensweisen, alten Sichtweisen, alten Werten, alten Verletzungen, alten Vorstellungen. Wir halten fest, weil wir den Vergleich mit den anderen, mit der Vergangenheit, mit der
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