Glücksspiele: Kollers sechster Fall (German Edition)
er,
Stochastik sei sein Metier.«
»Stochastik?«
»Die Lehre
vom Zufall.«
»Sie glauben,
er arbeitet in diesem Bereich? Als Wissenschaftler oder so?«
»Ich weiß
es nicht. Auf mich wirkte er wie einer von der Uni. So ein junges Mathematikgenie.«
»Interessant.
Aber einen Namen haben Sie nicht? Oder seinen Wohnort?«
»Nein, tut
mir leid.«
»Und Sie
haben ihn seither nie wieder gesehen?«
»Ich habe
auch den Leuchtturm nicht mehr betreten. Bis heute.«
»Würden
Sie den Mann wiedererkennen?«
»Oh …« Er
zögerte. »Wissen Sie, der Blick für Menschen gehört nicht zu meinen Stärken. Er
war jung und hatte dunkle Locken. Alles andere … tja.«
Tja. Böhnlein
hatte vermutlich nur für eines einen Blick: für Automaten und Roulettetische. Was
letztlich egal war, denn wie der Unbekannte aussah, wusste ich ja. Ich bedankte
mich also brav und wünschte ihm viel Glück beim nächsten Spiel. »Könnten Sie mir
den Wirt noch einmal geben, Herr Böhnlein?«
»Gern.«
Kurze Pause,
die wie vorhin mit atmosphärischen Störungen in der Leitung Berlin – Heidelberg
durchsetzt war. Dann hörte ich Polleks Stimme. Halblaut.
»Also, wenn
du mich fragst, ist das eine ganz arme Sau, der Böhnlein. Aber eine ganz arme. So
’ne alte Tunte, die keine Freunde hat und von Kneipe zu Kneipe tingelt, um ein bisschen
weniger allein zu sein.«
»Interessant.
Diesen Blick für Mitmenschen hätte ich Ihnen gar nicht zugetraut.«
»Ich meine
ja nur.«
»Und ich
sage danke, Herr Pollek. Für den Anruf und die Infos.«
»Bild dir
bloß nix darauf ein! Hab ich für Tietje getan.«
»Wie auch
immer. Wenn ich weiß, wer ihn auf dem Gewissen hat, gebe ich Ihnen Bescheid.«
Wortlos
legte er auf.
Ich drückte
ebenfalls den Aus-Knopf meines Handys und ließ meine Blicke über die zehn Zifferntasten
gleiten. Stochastik, Wahrscheinlichkeitsrechnung – das war einfach zu lange her.
Grundkurs Mathe, Oberstufe. So ziemlich das Übelste, was mir in meiner gesamten
Schulzeit begegnet war. Außer Kunst. Und Geräteturnen. Und Chorsingen. Und Latein
natürlich.
Wie ich
all das bloß überstanden hatte?
Ich sprang
auf, eilte in mein Büro hinunter und schmiss den Computer an. Während er hochfuhr,
warf ich ein paar Stichworte auf ein Blatt Papier, mit denen ich kurz darauf in
wechselnden Kombinationen Google fütterte: Stochastik – Wahrscheinlichkeit – Logarithmus
– Glücksspiel – Uni – Berlin. Ich erfuhr, dass an der Humboldt-Universität Vorlesungen
und Seminare zum Thema Stochastik angeboten wurden und dass es an der Technischen
Uni eine Arbeitsgruppe Stochastik und Finanzmathematik gab. Weitere Treffer führten
zu Instituten, Forschungsprojekten und Lehrstühlen deutschlandweit. Vor allem Versicherungen,
aber auch die Medizin und Umweltwissenschaften operierten mit den Auswirkungen des
Zufalls.
Nun gut,
das war auf seine Weise alles interessant, half mir aber kein Deut weiter. Wenn
ich wenigstens einen Namen gehabt hätte, um ihn in die Suchmaschine einzugeben!
Den Vornamen des Gesuchten, seinen Spitznamen oder den seines Arbeitgebers. Auf
einem Stapel rechter Hand lag der Ausdruck des Dartscheibenfotos. Die Lockenpracht
war in der Tat das auffälligste Merkmal des Unbekannten. Dann sein gespaltenes Kinn,
die fülligen Lippen und eine absolut werbetaugliche Zahnreihe. Zu blöd, dass ich
nur dieses Foto von ihm besaß.
Sollte ich
Kommissar Fischer anrufen? Den jungen, in Berlin? Der hatte noch ganz andere Möglichkeiten,
die Identität des Mannes zu ermitteln. Fotoarchive, Bildscanner, Gesichtserkennungsprogramme
… Ich dagegen hatte nur die Google-Bildsuche. Und als ich sie mit den Begriffen
von oben ausprobierte, fiel ich fast vom Stuhl vor Überraschung.
Gleich an
Position 5 des Suchprogramms lachte mich der Wicht aus dem Computer an!
Nach einer
Schrecksekunde klickte ich das Bild an. Ich wurde auf die Seiten eines Instituts
mit Sitz in Berlin gelenkt, das den schönen Namen »Institut für anwendungsoptimierte
Stochastik« trug. Keine universitäre Einrichtung, wie ich zunächst meinte, sondern
ein privatwirtschaftlich organisierter Thinktank, der sich projektweise mit Hochschulen
zusammentat. Wer dort arbeitete, hatte in der Regel mehr Doktortitel als Vornamen:
Mathematiker, Ökonomen, Soziologen, Psychologen, Neurologen sowie ein Theologe.
Und Dr.
Ben Brose, 43. Er gehörte zu den Mathematikern und war mein Mann.
Irgendwie
konnte ich nicht glauben, dass es so einfach gewesen war, ihn aufzuspüren.
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