Glücksspiele: Kollers sechster Fall (German Edition)
Wilmersdorf, Steglitz
und Schöneberg. Es leuchtet die Sonne ins kindliche Herz . Spiel, Reigen,
Gewimmel. Neun Jahre später wird es wieder wimmeln, vor dem Stadion, wenn der Führer
Freiwillige für die letzte Schlacht sucht, die Verteidigung des Olympiastadions
gegen die Rote Armee. Jugendliche vor! Der Führer wird verhindert sein, Bunkerexistenz,
aber er hat seinen Sprecher geschickt, den Sportlehrer Carl Diem, zur Weckung kindlicher
Begeisterung. Sie wissen noch nicht vom Walten des Schicksals .
»Und wir?«,
frage ich. »Wann sind wir dran?«
»Jetzt.«
Katinkas Oma greift mit einer Hand in die Schwärze der Augustnacht, erwischt einen
dünnen silbernen Faden, der an einem Haken endet. Den hängt sie in eine an ihrem
Rücken angebrachte Metallöse.
Vergeblich
versuche ich, ein Gähnen zu unterdrücken. »Was soll das denn?«
»Hast du
schon einmal ein Marionettentheater ohne Marionetten gesehen?« Sie geht um mich
herum und tastet meinen Rücken ab. »Komisch. Du hast ja gar keine Aufhängevorrichtung.
Verloren?«
»Ein Wildschweinunfall.
Mich hat ein unkastrierter Keiler umgerannt.«
»Wirklich?
Na, es wird auch so gehen.«
Ich sehne
mich nach der blonden Heidi aus München. Doch da sind nur Kinder: die 11- und 12-Jährigen
vor uns auf dem Rasen, die älteren um uns herum. Anmut der Mädchen .
»He, ich
bin kein Mädchen!«, rufe ich, aber da werde ich schon vorwärts geschoben und gedrückt
und stolpere fluchend über die Kampfbahn, die aschenrote, auf den heiligen Rasen
der Hertha. Die alte Dame!
Die alte
Dame hüpft als junges Mädchen neben mir her. Schwingt Keulen, wirft den Ball, lässt
den Reifen kreisen. Wir sind Tausende, weiß und goldgelb, mit flatternden Schulterbändern.
Schmeißen unsere Marionettenbeine in die Berliner Luft, die Marionettenarme in den
Berliner Nachthimmel, nach der Choreografie Olympias und zu den Worten von Sportlehrer
Diem. Frohlockende Herzen in fröhlichen Scherzen . Hoffentlich erkennt mich
keiner! Ich bin der unkastrierte Keiler unter all den Engelchen. Aus großen Pilzlautsprechern,
um die wir tanzen, klimpert es Orffsch. Sechs urdeutsche Konsonanten hintereinander
sind das, o-r-f-f-s-c-h, und genau so klingt auch die Musik. Habe sie ja schon in
München gehört, 36 Jahre später. Da darf der alte Orff noch mal ran, aber hier fehlt
mir die langbeinige Heidi.
Dafür kommt:
die Palucca. DIE Palucca! Natürlich, jetzt erkenne ich sie: die Inkarnation des
Tanzes, wie es heißt. Fest klebt die Frisur an den Schläfen, drahtig der Körper.
So viel Ausdruck! Selbst der Führer in der Loge bekommt Stielaugen. Moment, das
kann ich auch. Ich hüpfe an die Seite der Palucca, schmeiße meine eigenen Haxen,
so hoch ich nur kann. Weltrekordverdächtig, jedenfalls für einen Keiler. Die Palucca
staunt. Der Führer ist begeistert. Soll ich euch meine Fahne zeigen? Meine Münchner
Testosteronfahne, die überragt sogar den Glockenturm, drüben hinterm Maifeld. Männerwille,
Männertaten wachsen auf – sehr richtig, Sportvater Diem! Wenn die Palucca nicht
so walkürenmäßig überschminkt wäre, könnte sie fast die blonde Heidi ersetzen. Wir
walzern uns in einen Rausch. Bis ich gegen die Ellbogenspitze von Katinkas Oma laufe.
»Mach dich
nicht zum Gespött der Leute«, raunt sie. »Halb Berlin lacht schon über deine Faxen.«
Beleidigt
ziehe ich mich zurück. Meine Schulterbänder flattern. Gold im Faxenmachen geht an
Max Koller. An all den tanzenden, hüpfenden, springenden Pennälermarionetten vorbei
schlurfe ich zur Kampfbahn. Als ich mich auf einen Startblock setzen will, kommt
ein Hausmeister mit einem Schild angeflitzt: »Dieser Startblock ist juden- und faxenmacherfrei.«
Gut, nehme ich halt den nächsten. Aber da steht schon Avery Brundage und rammt ein
Schild in die rote Asche: »No niggers, jews or faxenmachers!« Mir reicht’s, ich
schnipse so laut mit den Fingern, dass es der Führer hört und die Schilder sofort
entfernen lässt. 18.000 Brieftauben schwärmen hinaus in die Nacht. Friedensvögel
aus Heeresbeständen.
Jetzt wird
es langweilig. Musik, Musik und noch mal Musik. Und für diesen Aufguss gab es eine
Goldmedaille? Deutschland, Platz eins in der Nationenwertung. Kampf der Kräfte,
Kampf der Künste . Das Gau-Landesorchester müht sich auf seinen kernigen Instrumenten
ab, ist den Lautsprechern hinten im Stadion aber immer einen Takt voraus. Ergriffenheit
des Publikums, wie in Stein gemeißelt. 110.000 zahlende Gäste.
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