Glücksspiele: Kollers sechster Fall (German Edition)
Sie.
Der Sportler, den ich begleite, fiel noch nie im Zusammenhang mit Doping auf. Ob
er Teil von Tietjes Enthüllungsstory sein sollte, kann ich nicht sagen. Es scheint
mir aber extrem unwahrscheinlich.«
Sie setzte
zu einer Entgegnung an. Quäkend erregt, wie ich annahm. Da aber wurde die klemmende
Tür der Kneipe aufgewuchtet, und herein strömten Menschen. Viele Menschen. Als wir
dachten, jetzt ist es aber genug, kamen noch mehr. Und die riefen den draußen Wartenden
zu, es gebe jede Menge Platz in der Kneipe.
»Muss das
sein?«, stöhnte Madeleine Klein. »Diese Nervensägen!«
Ganz offensichtlich
überblickte sie die Situation schneller als ich. Ob die Neuankömmlinge Nervensägen
waren, wagte ich nicht zu beurteilen. Sie waren jung, viele von ihnen waren geschminkt
und kostümiert, einige trugen Masken. Sie führten Plakate und Transparente mit sich,
ich entdeckte auch eine Piratenflagge. Und laut waren sie. 50 Personen, die sich
unterhielten, die Witzchen machten, die einander über die ganze Breite der Kneipe
grüßten und zuwinkten. Zwei testeten ihre Trillerpfeifen, ein paar andere sangen
vor sich hin.
Nur die
Bedienung glotzte noch fassungsloser als ich.
»Immer was
los in Berlin«, murmelte ich.
»Occupy
goes Ostermarsch«, schnob die Klein verächtlich.
Die Letzten
der Gruppe drängten noch zur Tür herein, als die Vordersten bereits Getränke bestellten.
Und was zu essen! Brote! Eine Suppe! Pizza! Warm oder kalt, Hauptsache schnell.
Im Handumdrehen waren sämtliche Stühle der Kneipe belegt. Wer keinen Sitzplatz ergattert
hatte, suchte sich eine Alternative: einen Schoß, den Fußboden, den Tresen. Knutschen
stand hoch im Kurs, Umarmungen noch höher. Panisch forderte die Bedienung Verstärkung
aus der Küche an, dann versuchte sie, die eingehenden Bestellungen zu ordnen.
»Occupy?«,
sagte ich und kratzte mich am Kopf. »Ach so, deshalb die Masken.«
Einige der
Jugendlichen hatten Politikerköpfe aus Plastik übergestülpt – ich zählte einen Obama
und zwei Merkel –, deutlich größerer Beliebtheit jedoch erfreute sich das Grinsegesicht
von Guy Fawkes, der damals versucht hatte, das englische Parlament in die Luft zu
jagen. Freie Backen waren mit »99%«-Stempel versehen. »Besetzt die Banken!« las
ich auf einem Bettlaken, das sich ein Aktivist wie eine Toga um den Körper geschlungen
hatte. Passenderweise steckten seine nackten Füße in Sandalen. Ein anderer kam auf
uns zu und griff nach den beiden unbesetzten Stühlen an unserem Tisch.
»Braucht
ihr die?«
Ich schüttelte
den Kopf. Madeleine Klein spielte missmutig auf ihrem Netbook herum. War das schon
das Ende unseres Gesprächs? So hungrig, wie die Leutchen aussahen, würden sie erst
gehen, wenn auch der Letzte verpflegt war.
»Danke für
eure Solidarität«, sagte der mit den Stühlen und zückte zwei Flyer, die er uns reichte.
»Am 29. April haben wir unseren Aktionstag. Ihr gehört zu uns, wir sind 99 Prozent.«
»Ich auch?«,
sagte ich.
»Bist du
Banker? Millionär? Spekulant? Falls nicht, gehörst du zu uns. Am Tag vor Walpurgis
besetzen wir die Banken.«
Eigentlich
sah er ganz nett aus, der Typ. So eine Mischung aus Frauenversteher und Holzfäller.
Nicht besonders gut rasiert und ähnlich übernächtigt wie ich. Umsturz macht müde.
Er nickte uns noch einmal zu und gesellte sich zu den anderen. Die ersten Schrippen
landeten an ihrem Bestimmungsort.
»Wie viele
Suppen?«, schrie die Bedienung. »15, ja? Mehr is eh nich!«
»Kann ich
hier mit meiner Goldcard zahlen?«, rief einer und lachte sich halb tot, als die
Meute zu murren begann. »Mensch, das war doch ’n Witz! Goldcard, also echt!«
Ich fand
den Witz gar nicht so übel, nur Madeleine Klein schaute angewidert drein.
»Machen
Sie eine Story über die da«, riet ich ihr. »So nah kommen Sie nie wieder an diese
Leute ran. Beim Suppeschlürfen, überlegen Sie mal!«
»Wir haben
keine Gutmenschenseite in unserem Blatt«, giftete sie. »Was ist nun, Herr Koller?
Reden wir draußen weiter?«
»Auf der
Straße? Ich glaube, es bringt so oder so nichts.«
»Wie bitte?«
»Es bringt
nichts«, rief ich ihr zu. »Sie glauben mir nicht – und ich Ihnen auch nicht. Doping
kann nicht der Anlass für Tietjes Ermittlungen gewesen sein.«
Ihr überschminktes
Brünnhildengesicht verzog sich, weil in diesem Moment die halbe Kneipe Enteignungsparolen
zu skandieren begann. Dabei wurde gehüpft und Polonaise getanzt. Es war, als würde
Che Guevara Weiberfastnacht
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