Glühende Lust
Morgen, die Sonnenbarke des Re hatte die Unterwelt noch nicht verlassen, aber ihre Strahlen tauchten den östlichen Himmel in warmes Rot und ließen im Westen, dem Land des Todes, die Spitzen der uralten Pyramiden wie Sterne aufleuchten. Merit vermisste den üblichen morgendlichen Trubel. Nur hier und da vernahm sie leise Morgengrüße, Schritte und das Getrappel von Eseln und Ziegen.
»Kawit ist weggelaufen.« Tani legte den Ast beiseite,kniete neben ihr und berührte mit der Stirn Merits Unterarm.
Merit zog sie an sich. »Nicht das auch noch«, wisperte sie. »Sie findet sich doch niemals zurecht!« Aufseufzend kämpfte sie sich auf die Füße, die immer noch weh taten. Mit unbeholfenen Fingern verknotete sie einen weiteren gelösten Lederstrang ihrer Sandalen. Daheim würde sie sich jetzt im Badehaus von Tani oder Sitankh waschen und duftendes Öl in ihre Glieder massieren lassen, bevor sie sich in weiches, durchschimmerndes Leinen höchster Güte kleidete. Dann würde sie vor ihrem kleinen Sobekschrein beten und Weihrauch verbrennen. Dann sich vom Vater herzen lassen, vom Bruder necken, mit ihnen speisen – dampfendes Brot, Honigkuchen, Wassermelonen und Traubensaft! Aber dieses Leben war zerstört, und in ihrem neuen wusste sie nicht einmal, wo sie sich jetzt erleichtern konnte. Und dann, wohin? Doch zum Palast?
Ein Stück des gestrigen Brotes kauend, tappte sie hinunter und hob den Vorhang zum Schankraum. Die Wirtin stand am Feuer und rührte in einem Kupferkessel. Es duftete nach Milch. Kawit hockte zu ihren Füßen auf dem Boden; ihr in den Nacken gelegtes Köpfchen folgte jeder ihrer Bewegungen.
Erleichtert kraulte Merit ihre Ohren. »Setzt euch«, sagte Nanacht, ohne aufzuschauen. Sie trug ein enganliegendes Trägerkleid mit verblichenem Rautenmuster. Die handbreiten Träger konnten ihre schwingenden Brüste kaum bändigen, während sie den Kessel beiseitezog, zwei Schalen hineintauchte und auf den Tisch stellte. Merit bröckelte das alte Fladenbrot in den Getreidebrei und aß. Wer mochte wissen, wann sie sich wieder den Magen füllen konnte?
Nanacht blickte aus ihren lidschweren Augen auf sie und Tani herab. Nachdenklich. Erst der ledrige Mann unterbrach ihre Gedanken, als er auf dem Rücken einen Sack hereintrug. Einzelne Linsen rieselten hinter ihm her, als er in den Nebenraum schlurfte. Merit hörte, wie er die Linsen in ein tönernes Vorratsgefäß schüttete. »Zwiebeln bringe ich dir noch«, schnaufte er. »Und einen Sack Gerste fürs Bier. Aber da musst du auch Brot draus machen, nicht nur Bier, denn das Haus des Bäckers ist geplündert.«
»Dann beschaffe mir noch einen Sack. Ich zeige mich auch erkenntlich.«
»Wirklich?« Beglückt griff er nach ihr. Nanacht knurrte, tat aber nichts, seine tastenden Hände abzuwehren. Einer der Träger fiel über ihre Schulter. Der Mann strich über ihre Brust, wog sie und kniff die Brustwarze. Merit blieb der Brei im Halse stecken, da er völlig zu vergessen schien, dass drei Schritte weiter Gäste saßen. Sie räusperte sich. Er fuhr herum und strich sich grinsend über den kahlen Schädel.
»Ja, also … auf dem Markt sagen sie, man solle Datteln besorgen, viele Datteln.« Er wandte sich wieder der Wirtin zu und küsste sie. »Für assyrischen Rauschtrank. Den musst du jetzt machen, wenn du überleben willst.«
Sie schob ihn von sich, schnappte sich einen Lappen und schleuderte ihn in Richtung der Tür. »Gut, ich bewirte fremde Krieger«, fauchte sie. »Mir bleibt wohl keine Wahl. Aber sie sollen fressen und saufen, was ich zu bieten habe. Oder soll ich etwa auch noch auf die Felder laufen und Heuschrecken sammeln?«
»Beruhig dich doch«, flehte er mit erhobenen Händen, dann stakste er zur Tür. Sein Blick streifte Meritund Tani. »Passt auf euch auf. Ein paar Straßen weiter gibt’s Krach; ein paar starke Männer wollen das Kämpfen nicht lassen, dabei haben sie nur Stuhlbeine.« Er rollte die Augen: »Aber hier herrscht ja jetzt der barbarische Gott Assur!«
Er war hinaus und zog die Tür hinter sich zu. Merit stellte die halbgeleerte Schale auf den Boden und strich Kawit, die sofort den Kopf darin versenkte, über das Fell.
»Dattelgebräu, Dattelgebräu«, brummte Nanacht, derweil sie mit einem schmutzigen Lumpen über den Tisch fuhr. »Mit meinem roten und hellen Bier war noch jeder zufrieden!« Wieder starrte sie Merit und Tani an, und mit einem Mal zeigte ihr breiter Mund ein Lächeln, das wohl freundlich sein sollte. »Wir müssen
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