Glut der Verheißung - Kleypas, L: Glut der Verheißung - Seduce me at sunrise
zuvor eine Gouvernante angestellt hatten. Ihr Name war Miss Marks, und beide liebten sie, obwohl ihre Beschreibungen nicht gerade erklärten, warum sie ein solches Geschöpf mochten. Allem Anschein nach war sie dürr und still und streng. Sie half nicht nur den Schwestern, sondern der gesamten Familie, sich die Gepflogenheiten der Oberschicht anzueignen.
Leo vermutete, dass ein solcher Unterricht wohl eine gute Idee war. Für jeden anderen, wenn auch nicht für ihn.
Wenn es um höfliches Benehmen ging, neigte die Gesellschaft dazu, von Männern viel weniger zu erwarten als von Frauen. Und wenn ein Mann dann noch einen Titel vorweisen konnte und seinen Alkoholkonsum in Grenzen hielt, konnte er tun und sagen, was er wollte, und wurde dennoch überall eingeladen.
Durch eine Laune des Schicksals hatte Leo die Würde eines Viscounts geerbt, womit er den ersten Teil der gesellschaftlichen Verpflichtung erfüllte. Und nun, nach dem langen Aufenthalt in Frankreich, hatte er seine Trinkgewohnheiten auf ein oder zwei Gläser Wein zum Abendessen begrenzt. Was
bedeutete, dass er fortan mit großer Wahrscheinlichkeit zu jeder langweiligen und achtbaren Veranstaltung eingeladen werden würde, auch wenn sie ihn nicht im Geringsten interessierte.
Er hoffte lediglich, dass die respekteinflößende Miss Marks nicht den Versuch unternahm, ihm Manieren beibringen zu wollen. Wobei es andererseits recht unterhaltsam sein könnte, sie geschickt auflaufen zu lassen.
Leos gesamter Wissensschatz über Gouvernanten speiste sich aus Büchern, in denen sich die unscheinbaren Damen stets in den Hausherrn verliebten, und das mit schrecklichen Folgen. Miss Marks hingegen war vollkommen sicher vor ihm. Im Gegensatz zu früher hatte er keinerlei Interesse daran, jemanden zu verführen. Seine zügellosen Ausschweifungen aus der Vergangenheit hatten jeglichen Reiz für ihn verloren.
Auf einem Spaziergang in der Provence, bei dem sich Leo die Ruinen einer gallo-römischen Kultstätte ansehen wollte, hatte er einen seiner früheren Professoren der École des Beaux-Arts getroffen. Diese zufällige Begegnung hatte zu einer Wiederauflebung ihrer früheren Freundschaft geführt. In den folgenden Monaten hatte Leo viele Nachmittage mit dem Anfertigen von Skizzen, Lektüre und Besuchen im Atelier des Professors verbracht. Leo hatte daraufhin einen Entschluss gefasst, den er hier in England nun auf die Probe stellen wollte.
Während er nun unbekümmert den langen Korridor entlangschritt, der zur hathawayschen Suite führte, vernahm er ein hastiges Trippeln hinter sich. Galant trat Leo zur Seite und wartete.
»Komm her, du kleiner Teufel!«, hörte er eine Frau fauchen. »Du überdimensionale Ratte! Wenn ich dich in die Finger bekomme, reiße ich dir die Eingeweide heraus!«
Der blutrünstige Ton der Frau war nicht besonders damenhaft. Geradezu erschütternd. Leo amüsierte sich köstlich. Die Schritte kamen näher… aber sie stammten nur von einer Person. Wen mochte die Frau nur jagen?
Schon sehr bald stellte sich heraus, dass die Frage nicht lauten durfte, »wen« sondern »was« sie verfolgte. Ein pelziges Frettchen, das einen mit Rüschen besetzten Gegenstand im Maul hielt, sprang den Korridor hinab. Der Großteil der Hotelgäste hätte sich beim Anblick des kleinen fleischfressenden Nagers zu Tode erschreckt. Leo hingegen hatte jahrelang mit Beatrix’ Geschöpfen zusammengelebt: Mäusen, die plötzlich in seinen Taschen auftauchen, kleinen Häschen in seinen Socken, Igeln, die gemütlich den Esstisch entlangkrabbelten. Lächelnd beobachtete er, wie das Frettchen an ihm vorbeihuschte.
Dicht auf seinen Fersen folgte die Frau in einem Gewirr aus raschelnden grauen Röcken. Aber wenn es eines gab, wozu die Kleidung von Damen nicht bestimmt war, so war es das Ausleben eines übermäßigen Bewegungsdrangs. Herabgezogen von unzähligen Lagen Stoff, stolperte die Frau und fiel mehrere Meter von Leo entfernt hin. Ihre Brille flog in hohem Bogen zu Boden.
Augenblicklich hastete Leo an ihre Seite und bahnte sich einen Weg durch das knisternde Durcheinander aus Armen, Beinen und Röcken. »Seid Ihr verletzt? Ich bin sicher, dass sich irgendwo dort
eine Frau versteckt hält … Ah, da seid Ihr ja! Lasst mich …«
» Fasst mich nicht an! «, zischte sie und wehrte sich mit beiden Fäusten.
»Ich fasse Euch gar nicht an! Das heißt, ich berühre Euch lediglich, um Euch … aua , verdammt nochmal … zu helfen.« Ihr Hut, ein kleiner Fetzen Wolle, der mit
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