Glut der Verheißung - Kleypas, L: Glut der Verheißung - Seduce me at sunrise
den Ballsaal gehen zu können, war etwa eine halbe Stunde verstrichen. Sie lächelte, als
Poppy den Ankleideraum der Damen betrat und auf sie zukam.
»Hallo, meine Liebe«, sagte Win und erhob sich aus ihrem Sessel. »Hier, setz dich! Brauchst du Haarnadeln? Puder?«
»Nein, vielen Dank.« Poppys Gesichtsausdruck war angespannt, regelrecht besorgt, und sie sah beinahe ebenso gerötet aus, wie Win es noch vor wenigen Minuten gewesen war.
»Amüsierst du dich auch gut?«, fragte Win zögerlich.
»Nicht wirklich«, erwiderte Poppy und zog sie in eine Ecke, um nicht belauscht zu werden. »Ich hatte mich darauf gefreut, jemanden Neuen zu treffen und nicht nur die gewöhnliche Meute steifer alter Adeliger – oder noch schlimmer, die steifen jungen Adeligen. Aber die einzigen neuen Männer, die ich getroffen habe, waren reiche, schnöselige Emporkömmlinge. Entweder wollten sie über Geld reden – was ordinär ist -, oder sie üben einen Beruf aus, den sie nicht besprechen können, was bedeutet, dass sie in illegale Geschäfte verstrickt sind.«
»Und Beatrix? Wie schlägt sie sich?«
»Oh, sie ist sehr beliebt. Sie stolziert herum und sagt ungeheuerliche Dinge, und die Menschen lachen und glauben, sie sei witzig, wo Beatrix doch in Wirklichkeit jedes Wort ernst meint.«
Win lächelte. »Sollen wir in den Ballsaal gehen und sie suchen?«
»Noch nicht.« Poppy ergriff ihre Hand und drückte sie fest. »Win, meine Liebe … Ich habe dich gesucht, weil … unten ist eine Art Aufruhr im Gange. Und … es geht um dich.«
»Ein Aufruhr?« Win schüttelte den Kopf, und eine Eiseskälte kroch ihr in die Knochen. Ihr Magen drehte sich. »Das verstehe ich nicht.«
»Das Gerücht ist aufgekommen, dass du im Wintergarten kompromittiert wurdest. Sehr kompromittiert.«
Win spürte, wie sie aschfahl wurde. »Es ist doch nur eine halbe Stunde gewesen«, flüsterte sie.
»Das ist die Londoner Gesellschaft«, sagte Poppy grimmig. »Gerüchte verbreiten sich wie ein Lauffeuer.«
Zwei junge Frauen betraten den Ankleideraum, sahen Win und begannen augenblicklich zu tuscheln.
Win sah Poppy entsetzt in die Augen. »Es gibt einen Skandal, nicht wahr?«, fragte sie benommen.
»Nicht, wenn die Sache entschlossen und rasch aus der Welt geräumt wird.« Poppy drückte ihr die Hand. »Ich soll dich zur Bibliothek bringen, meine Liebe. Amelia und Mr Rohan sind dort – wir stecken die Köpfe zusammen und entscheiden, wie unsere nächsten Schritte aussehen.«
Win wünschte beinahe, wieder eine Invalide mit häufigen Erschöpfungszuständen zu sein. Im Moment hatte eine schöne lange Ohnmacht etwas sehr Verlockendes an sich. »Oh, was habe ich nur getan?«
Ihre Worte entlockten Poppy ein schwaches Lächeln. »Das scheinen sich auch die übrigen Gäste zu fragen.«
Vierzehntes Kapitel
Die Bibliothek der Hunts war ein wunderschöner Raum mit aufwendig geschnitzten Bücherregalen aus Mahagoni. Cam Rohan und Simon Hunt standen neben einer großen, mit Intarsien verzierten Anrichte, die mit glitzernden Karaffen beladen war. In einer Hand hielt der Gastgeber ein Brandyglas und warf Win bei ihrem Eintreten einen unergründlichen Blick zu. Amelia, Mrs Hunt und Dr. Harrow waren ebenfalls anwesend. Win beschlich das sonderbare Gefühl, dass all dies hier nicht real sein konnte. Nie zuvor war sie in einen Skandal verwickelt gewesen, und es war nicht halb so aufregend oder interessant, wie sie es sich die ganze Zeit auf ihrem Krankenbett ausgemalt hatte.
Es war beängstigend.
Denn trotz ihrer Warnung an Merripen, dass sie sich kompromittieren wollte, hatte sie die Worte natürlich nicht ernst gemeint. Keine vernünftige Frau würde sich etwas derart Schreckliches wünschen. Einen Skandal heraufzubeschwören, zerstörte nicht nur Wins Aussichten auf einen Ehemann, sondern auch die ihrer jüngeren Schwestern. Ein solcher Schandfleck würde einen Schatten über die gesamte Familie werfen. Ihr Leichtsinn würde allen Menschen schaden, die sie liebte.
»Win.« Amelia kam augenblicklich auf sie zu und
umarmte sie fest. »Sei unbesorgt, meine Liebe. Wir regeln das.«
Wäre Win nicht so verzweifelt gewesen, hätte sie wohl gelächelt. Ihre ältere Schwester war berühmt für ihre Zuversicht, alles regeln zu können, einschließlich Naturkatastrophen, den Einfall ausländischer Streitkräfte und wilder Tiere. Nichts davon käme jedoch der Verwüstung gleich, die ein Londoner Skandal in der Hautevolee nach sich zöge.
»Wo ist Miss Marks?«, fragte
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