Glutheißer Höllentrip
überfällig. Unsere Handys sind alle ausgeschaltet. Wenn nur ein Freund oder Elternteil die Polizei alarmiert, dann wird sich schnell herausstellen, dass der Bus entführt wurde. Die Cops könnten eine Nachrichtensperre verhängt haben, um die Kidnapper in Sicherheit zu wiegen.“
„Ja, aber diese Tatsache solltest du Pete nicht unter die Nase reiben“, gab Li leise zurück. „Er hält sich für einen genialen Superverbrecher. Der macht dich glatt einen Kopf kürzer, wenn du an seinen Fähigkeiten zweifelst.“
Kathy nickte. Sie hatte auch schon bemerkt, dass der Anführer der Gefängnisausbrecher überhaupt nicht kritikfähig war. In ihren Augen war Pete ein völliger Psychopath. Das machte ihn ja gerade so gefährlich und unberechenbar.
Momentan war Kathy aber viel stärker wegen Lizas Flirt mit Henry beunruhigt. Das ungleiche Paar befand sich nur zwei Sitzreihen von Kathy und Li entfernt. Daher konnten sie alles mitkriegen, was zwischen der Studentin und dem entflohenen Sträfling gesprochen wurde.
„Irgendwie seid ihr doch coole Typen, finde ich.“
„Willst du mich verschaukeln, Liza? Darauf stehe ich überhaupt nicht.“
„Nein, ich meine es total ernst. Es war gewiss nicht leicht, aus dem Gefängnis auszubrechen.“
„Darauf kannst du wetten!“, gab Henry angeberisch zurück. „Vor allem unsere Vorbereitungen mussten in aller Stille über die Bühne gehen. Du kannst dir nicht vorstellen, wie viele Neider es hinter Gittern gibt. Es war völlig klar, dass wir nur mit einer kleinen Gruppe ausbrechen konnten.“ Er machte eine kleine bedeutungsvolle Pause, dann fuhr er fort: „Jeder andere Knastbruder guckte in die Röhre und musste in seinem verfluchten Käfig bleiben. So etwas schafft immer böses Blut. Jeder von denen hätte uns an die Wärter verraten können, deshalb musste alles geheim bleiben. Wir haben also den richtigen Moment abgewartet und dann unser Ding durchgezogen.“
„Ja, und das finde ich total toll.“
Henry schnaubte verächtlich. „Ich glaube immer noch, dass du mich nicht für voll nimmst. Stört es dich überhaupt nicht, dass Pete den Fahrer umgelegt hat? Und dass du jetzt hier mitten in der Nevada-Wüste sitzt, anstatt an deiner Uni coole Partys zu feiern?“
„Okay, das mit dem Fahrer war wirklich ein Schock. Das hätte vielleicht nicht sein müssen“, gab Liza zu. „Aber ihr habt doch alle unter einem heftigen Stress gestanden, nehme ich an. Und die Partys an der Uni sind doch ziemlich harmlos, ehrlich gesagt. Jedenfalls finde ich es viel aufregender, was wir im Moment gerade erleben.“
Kathy traute ihren Ohren nicht. Liza hatte vorhin zu den Studentinnen gehört, die hysterisch gekreischt hatten und kaum zu beruhigen gewesen waren. Und nun hatte sie sich wie durch Zauberhand in eine Art Gangster-Groupie verwandelt? Das durfte doch alles nicht wahr sein. Kathy konnte überhaupt nicht verstehen, was da wenige Meter von ihr entfernt abging. Doch dann hörte sie plötzlich wieder die Stimme der Chinesin.
„Stockholm-Syndrom“, flüsterte Li in Kathys Ohr.
„Stockholm-Syndrom? Was soll das bedeuten? Davon habe ich noch niemals gehört.“
„Du studierst ja auch nicht Psychologie, Kathy. Stockholm-Syndrom bedeutet, dass eine Geisel mit ihrem Kidnapper sympathisiert, sich vielleicht sogar in ihn verliebt.“ Li schnaubte leise, dann fuhr sie fort: „Neunzehnhundertdreiundsiebzig hat es in Stockholm einen Bankraub mit Geiselnahme gegeben. Als die Entführung ausgestanden war und die Verbrecher hinter Gittern saßen, haben die ehemaligen Geiseln für ihre Peiniger um Gnade gebeten. Einige haben sie sogar im Gefängnis besucht.“
„Aber wie ist so etwas möglich, Li?“
„Eigentlich ist es einfach zu erklären. Niemand kann uns hier helfen, Pete und seine Leute sind sozusagen die Herren über Leben und Tod. Es liegt an ihnen, ob wir weiterleben oder sterben. Es ist nicht wie in einem Kampf, wo beide Seiten Waffen haben. Wir sind ihnen ausgeliefert.“ Sie sah Kathy eindringlich an. „Sie entscheiden, ob wir etwas zu trinken bekommen oder auf die Toilette dürfen. Für die kleinste Annehmlichkeit sind wir ihnen dankbar. Was glaubst du, wie sehr Liza diese Cola von Henry genossen hat. Es ist wahrscheinlich die schönste Cola ihres Lebens. Wenn Pete es nicht erlaubt hätte, müsste sie immer noch ihren Durst ertragen.“
„Willst du damit sagen, dass dieses Stockholm-Syndrom uns alle treffen kann?“
„Du und ich werden nicht auf diese Kerle hereinfallen.
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