Glutnester
wenigen ausholenden Schritten den Platz, an dessen Ende sich die Imposanz des Doms auftut.
Über ihr zieht ein Flugzeug seine einsame Bahn am Himmel. Ein weicher, weißer Faden im himmlischen Blau des frühen Tages. Sie schaut auf die Scheidungsurkunde in ihrer Hand. Ein Stück Vergangenheit, das bisher bis in die Gegenwart reichte.
»Schluss! Aus! Vorbei!«, meint Elsa entschieden und zerreißt das Papier in lauter kleine Stücke. Wie köstliche Happen für die Tauben liegt die Schwere vergangener Jahre in ihrer Hand. Sie öffnet die Handinnenflächen, holt tief Luft und pustet die Papierfetzen energisch in den Tag hinaus.
Im Dom ist es kühl und friedlich. Elsa bekommt nichts mit von dem, was um sie herum passiert. Sie filtert lediglich die Geräuschkulisse sanfter Gebete heraus. Hört das Klacken dutzender Absätze auf dem Boden. Ein leises Absatzkonzert. Das Klicken zahlreicher Kameras gesellt sich dazu. Alles wirkt wie von Ferne an sie herangetragen.
Die prachtvollen bunten Fenster des Doms sind ganz nah. Sie tauchen sie in eine andere Wirklichkeit. Drücken ihre Seele tief hinein in die neue Frische der Erkenntnis und der Erlösung, die die Fenster jedem Einzelnen zu versprechen scheinen. Elsa geht sie ab. Eins nach dem anderen. Ihre Schritte scheinen zu schweben. Staunend und nach Luft ringend wegen der erhabenen Schönheit der Gläser, legt sie den Kopf in den Nacken. Die Augen pflügen nach oben, auf eins gerichtet. Das moderne Fenster Gerhard Richters kleidet diesen Moment, wie das schönste Kleid es am Körper einer Frau nicht besser könnte. Elsa haucht, plötzlich ungestüm, einen Kuss in die Luft. Danach einen in Richtung Altar. Ihre Mundwinkel spielen mit ihr. Ziehen sich hoch und hinunter. Sie lächelt leise, schreitet das Kirchenschiff ab und spürt, wie alles ihr von der Seele rutscht. Der ganze Ballast. Hartmut. Sein wiederholter Ehebruch. Die einsamen Tage. Aber vor allem die stillen Nächte ihres Neubeginns. Hier findet der Anfang ihrer Absolution statt. Sie ahnt endlich, was Hoffnung ist. In dieser Kirche ist sie zu Hause. Einige friedliche Herzschläge lang.
Bis es in ihrer Jacke brummt.
Elsa verwehrt sich einen letzten heilenden Blick auf ein weiteres Fenster in grandiosen Farben und eilt, an einer Gruppe Japaner vorbei, Richtung Ausgang. Draußen treffen sie eine fremde Wärme und eine Ladung Taubenkot. Ihre Nase versinkt unter übel aussehender Vogelscheiße, während sie flucht und gleichzeitig lacht.
Elsas Flüche, ihr Gelächter und die Suche nach einem Taschentuch wechseln sich ab. Sie findet nichts, womit sie sich säubern könnte, und greift schließlich nach einem benutzten Fetzen, den ihr ein Kind hinhält. Hinterhältig grinsend. Elsa wischt sich über den Nasenrücken und geht gleichzeitig an ihr Handy, während der Junge vor ihr das breiteste Grinsen der Welt übt.
»Wegener!«, presst sie hervor, während sie sich noch über die klebrige Haut wischt und das Taschentuch anschließend in einem der Abfalleimer entsorgt. Der Junge hat genug von ihr und ihrem Schauspiel und trollt sich.
»Was halten Sie davon, Ihren Golf mal wieder von innen zu begutachten und zurückzukommen?«, schlägt Karl Degenwald, ihr Kollege in Traunstein, vor. In einem Ton, als lade er sie zu einem Fest ein. Einem lange geplanten, das sie allerdings vergessen hat.
»Was steht an?«, fragt Elsa. Ahnend, dass Degenwalds Ton nur schöner Schein ist.
»Wir haben eine Tote. Genaueres wissen wir noch nicht.«
»Wer und wo?«, will Elsa wissen. Das Wesentliche hat sie noch nie auf die lange Bank geschoben. Dafür ist sie zu engagiert. Und zu neugierig.
»Luise Gasteiger, 72. War mit Roland Gasteiger, einem Landwirt, verheiratet. Luise ist in ihrem Schlafzimmer gefunden worden. In Kruchenhausen.«
»Ich komme!« Elsa schluckt, drückt die Aus-Taste und hastet Richtung Parkhaus davon.
»Wieso müssen wir Köln schon wieder fluchtartig verlassen? Ich hatte mit Philipp und den anderen noch ziemlich heiße Sachen vor!«, regt Anna sich auf. Sie sitzt auf dem Beifahrersitz. Neben Elsa. Kaut auf ihrer Nagelhaut herum und zieht eine Schnute. Draußen ziehen verschiedenfarbige Strichhäuschen, putzig kleine Autos, Mini-Felder, Bäumchen, Fabriken und allerlei Sonstiges vorbei. Je schneller Elsa fährt, umso kleiner wird draußen alles.
»Degenwald hat mich zurückgepfiffen. Was macht Lars?«, fragt Elsa nach. Sehr darum bemüht, einen normalen Tonfall hinzukriegen und den Wechsel zu einem anderen
Weitere Kostenlose Bücher