Glutroter Mond
fühlst du für mich, Holly? Das ist eine ganz einfache Frage.«
Ich habe nicht geahnt, dass ein Herz noch schneller schlagen kann, aber meines scheint sich hohe Ziele gesetzt zu haben. Stärker denn je wünsche ich mir davonzulaufen. Neal drängt mich in die Ecke. Ich hasse ihn dafür.
Tausend Gedanken schießen mir durch den Kopf. Die Wahrheit wäre gewesen, dass ich mir wünsche, alles würde genauso weitergehen wie bisher, sollten die Obersten mich nicht zu sich rufen. Aber mir wird bewusst, dass das nicht dauerhaft möglich gewesen wäre. Ich kann nicht bei Carl, Suzie und Candice leben, bis ich alt und grau bin.
Ich möchte gerade den Mund öffnen, um Neal zu sagen, dass auch ich mir eine Zukunft mit ihm wünschen würde, obwohl das nicht ganz der Wahrheit entsprochen hätte, als er schnaubend die Beine heranzieht und aufspringt. Ich habe zu lange gezögert.
»Weshalb willst du unbedingt über die Brücke gehen?«, raunzt er, wobei er mich von oben herab absieht, was mir noch mehr Angst einjagt. »Woher willst du wissen, dass dort alles besser ist als hier? Hier könnten wir ein sorgenfreies Leben führen. Familien mit Kindern werden gut versorgt. Du weißt nicht, ob deine Eltern überhaupt noch leben. Und noch viel weniger weißt du, ob die Welt jenseits der Brücke wirklich das Paradies ist, das man dich glauben lässt.«
Ich spüre, wie mir das Blut aus dem Gesicht weicht und mein Mund aufklappt, aber sagen kann ich nichts. Ich starre ihn nur an. Ich kann nicht glauben, was er sagt.
»Du glaubst alles, was in deinen Büchern steht«, fährt Neal mit seiner Schimpftirade fort. »Schaltest du gelegentlich auch mal dein Gehirn ein? Du bist doch so schlau, oder willst es zumindest sein. Wir wissen überhaupt nicht, was sich auf der anderen Seite der Brücke befindet und niemand hat je darüber gesprochen. Kommt dir das nicht seltsam vor? Ich sage dir jetzt mal etwas: Ich war froh, dass sie mich damals
nicht
rekrutiert haben!«
Tränen lösen sich aus meinen Augenwinkeln und laufen meine Wangen hinab. Ich hasse es zu weinen, kann es aber nicht verhindern. Meine Welt bricht gerade über mir zusammen, der Boden unter meinen Füßen wird mir weggezogen. Mit einem Mal weiß ich selbst nicht mehr, was ich eigentlich will. Neal hat recht, ich weiß nicht genau, wie ein Leben in der Welt außerhalb der Barriere aussieht. Ich weiß nicht einmal, wie groß das Gebiet der Obersten ist. Es sind schon einige unser Nachbarn in den vergangenen Jahren rekrutiert worden. Einige von ihnen arbeiten heute bei der Nahrungsausgabe oder bei der Polizei, andere haben wir nie wieder gesehen. Diejenigen, die in schwarzen Anzügen in die Stadt zurückgekehrt sind, haben kein Wort mehr mit uns gesprochen, ihre Gesichter waren emotionslos. Ich habe mir geschworen, so nicht zu werden, wenn ich einer von ihnen werden sollte. Aber hätte ich das verhindern können? Was geschieht mit den Menschen jenseits der Barriere?
Jetzt weine ich ganz hemmungslos, meiner Kehle entweicht ein Schluchzen. Neal knurrt wütend.
»Ich bin diese verdammte Scheißstadt satt!«, brüllt er über die Wasseroberfläche. Ich hoffe, keiner der Obersten hat ihn gehört. Die Polizei geht nicht zimperlich mit jenen um, die das System infrage stellen.
Neal tritt gegen einen losen Brocken Teer, der aus der Straße herausgebrochen ist. Er fliegt weit und landet mit einem dumpfen
Plopp
im Wasser. Ehe ich begreifen kann, was er tut, springt er mit einem beherzten Sprung hinterher. Er taucht unter und macht ein paar Schwimmzüge unter Wasser. Ich schnappe geräuschvoll nach Luft. Was tut er denn da? Es ist verboten, in diesem Gewässer zu schwimmen, dazu ist einzig ein See im großen Park freigegeben worden.
Neal taucht wieder auf und schwimmt mit großen Zügen vom Ufer weg, ohne sich nach mir umzudrehen. Ich springe auf.
»Neal! Komm zurück! Was machst du denn da? Das ist verboten!«
Er antwortet mir nicht, sondern scheint nur noch schneller zu schwimmen. Es sieht aus, als steuere er auf die Insel der grünen Dame zu. Mir bleibt nichts anderes übrig, als ihm dabei zuzusehen.
Nach endlosen Minuten werden seine Schwimmzüge behäbiger. Er wird es niemals schaffen, die anderthalb Meilen bis zur Barriere zu schwimmen. Weshalb sollte er auch? Im Norden der Stadt, wo es kein Wasser gibt, kann man die Barriere aus der Nähe sehen. Dort gibt es nur Zäune, die das Stadtgebiet begrenzen, die wenige Yards vor dem Energieschild dafür sorgen, dass niemand den
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