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Glutroter Mond

Glutroter Mond

Titel: Glutroter Mond Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Narcia Kensing
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durchzukommen? Mein Fingerabdruck ist darauf! Sie würden den Betrug bemerken. Ganz sicher. Und dann würden sie zurückkommen und mich holen. Hat Carl den Brief doch nicht zu Gesicht bekommen? Haben alle Suzies Aussage blind vertraut?
    Neal steht in der Tür zu meinem Zimmer. »Kannst du mir jetzt endlich sagen, was in dich gefahren ist?«
    Ich zwinge mich, ruhig zu atmen, damit ich sprechen kann. »Das war der Brief, den Suzie heute morgen entgegen genommen hat, als ich nicht zuhause war. Aber er war an
mich
adressiert! An
mich
! Ich sollte an ihrer Stelle sein! Diese dumme Schlampe hat meine Identitätskarte gestohlen!« Ich benutze für gewöhnlich keine Kraftausdrücke, aber ich muss meinem Ärger Luft machen. Neal erbleicht.
    Wie eine Furie stürze ich auf die Tür zu, schiebe mich an Neal vorbei und springe die Treppe herunter, drei Stufen auf einmal nehmend. Vielleicht ist es noch nicht zu spät, den Irrtum aufzuklären. Ich muss zurück.
    Ich höre Neals Schritte hinter mir. »Holly! Warte auf mich!«
    Ich reiße die Haustür auf. Carl und Candice stehen davor, beinahe wäre ich mit ihnen zusammengeprallt.
    »Holly, wohin so eilig?«, fragt Carl, aber ich antworte ihm nicht. Ich habe keine Zeit dazu.

Kapitel sechs
    Holly  

    Ich renne und renne, bis mir die Lunge brennt. Ich bin ausdauernd und schnell, dem Lauftraining sei Dank. Hoffentlich ist es noch nicht zu spät. Die Straßen sind mittlerweile wieder so leer wie eh und je, der Strom der Menschen von Norden nach Süden ist versiegt. Sie sind inzwischen alle in ihre eigenen Bezirke zurückgekehrt. Zehntausend Einwohner sind nicht viel für eine Stadt, die fünfzehn Meilen lang und fast zwei Meilen breit ist. Sie wirkt wie ausgestorben.
    Ich laufe an Häuserruinen vorbei, an Schutthaufen, an Abfallbergen. Meine Beine bewegen sich wie an Marionettenfäden, mein Blick ist starr nach vorne gerichtet. Obwohl ich so schnell laufe wie ich kann, kommt mir der Weg endlos vor. Als der gepflasterte Platz im Park vor mir auftaucht, stelle ich mit Entsetzen fest, dass das Tor geschlossen ist. Ich kann ihn nicht betreten. Ich sehe durch die Gitter des Metallzaunes hindurch. Die Tische, an denen vor einer Stunde noch tausende Menschen gesessen haben, sind leer und verwaist. Auch der Container, aus dem man unser Essen holt, ist verschwunden.
    Ich renne den Zaun entlang zu einer Stelle, von der ich weiß, dass dort die Hubschrauber der Obersten landen. Sie liegt mitten in dem riesigen Park genau zwischen zwei Seen. Auch dort treffe ich niemanden mehr an. Ich sehe nur Fußspuren im Staub, die der Wind der Rotorblätter teilweise verweht hat.
    Sie sind weg. Ich kann es nicht fassen. Ich werde bis zum Abendessen warten müssen, wenn ich den Irrtum aufklären möchte. Ich kann nur hoffen, dass mir jemand sein Gehör schenkt. Es darf nicht sein, dass Suzie sich für mich ausgegeben hat. Sie werden es merken. Immerhin muss es einen Grund gegeben haben, weshalb sie mich und nicht sie erwählt haben. Die Lüge wird auffliegen.
    Ich tröste mich mit diesem Gedanken, als ich verschwitzt und völlig außer Atem wieder auf die Straße trete, von der ich nun weiß, dass sie einmal Broadway genannt wurde. Niemand ist hier, das Viertel ist wie ausgestorben. So weit im Norden gibt es keine Wohneinheiten, wir kommen nur hierher, um zu essen.
    Weil ich mich unbeobachtet fühle, lasse ich die Tränen ungehindert über mein Gesicht laufen. »Es ist unfair«, schluchze ich immer wieder. Ich kann nichts dagegen tun. Ich habe Angst, dass man mir nicht glauben wird, immerhin ist meine Identitätskarte unauffindbar.
    Ich denke an Neal und fühle mich noch schlechter. Entscheide ich mich für das Leben, das mir bestimmt ist, muss ich meinen besten Freund verlassen. Ich möchte mich aber nicht entscheiden. Mit einem Mal weiß ich überhaupt nicht mehr, was ich möchte und was nicht. Ich fühle mich überfordert.
    Ich fahre zusammen, als ich hinter einer Biegung einen Mann erblicke, der lässig gegen eine schmierige Hauswand lehnt. Ich hatte nicht erwartet, hier jemandem zu begegnen. Sogleich schäme ich mich für mein verheultes Gesicht. Ich möchte mich abwenden und schnell weitergehen, aber aus irgendeinem Grund kann ich den Blick nicht von ihm losreißen. Er ist keiner von uns. Er trägt keinen blauen Einheitsanzug, sondern ein schwarzes Hemd und schwarze Hosen. Ich habe nur ein einiges Mal einen Menschen gesehen, der keinen Anzug trägt. Das war einer der ranghohen Obersten, als eine neue

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