Glutroter Mond
verunsichert. Sein Blick zuckt hin und her. Er winkt jemandem zwei Tischreihen vor mir. Er wirkt nicht besonders glücklich.
Die Frau ist indes von dem Container heruntergeklettert und hat ihr Sprechgerät an die Seite gelegt. Sie sagt etwas zu den vier Auserwählten, was ich nicht verstehen kann. Sie verzieht dabei keine Miene und wirkt völlig unbeteiligt. Wenn ich an Suzies Stelle dort gestanden hätte, hätte ich mir ein wenig feierlichere Stimmung gewünscht oder zumindest ein aufmunterndes Wort von meinen künftigen Kollegen. Aber wenn ich genau darüber nachdenke, habe ich die Obersten nie lächeln gesehen. Ob Suzie einmal genauso wird? Schwer vorzustellen. Sie ist quirlig und temperamentvoll. Sie wird sich daran gewöhnen müssen. Immerhin bekommt sie ein Leben in Luxus. Besseres Essen, mehr Komfort. So steht es in meinen Büchern geschrieben. Es gibt nichts Erstrebenswerteres.
Der Mann im schwarzen Anzug bedeutet den Rekruten mit einer Geste, ihm zu folgen. Sie gehen nach Norden, weiter in den Park hinein. Irgendwo dort wartet der Hubschrauber.
Ich atme tief ein. Was für ein schrecklicher Tag! Wann gibt man uns endlich das Zeichen, dass wir aufstehen dürfen?
Ich spüre, wie Neal unter der Tischplatte mit seinem Fuß den meinen berührt und sehe ihn an. In seinem Gesicht liegt ein Ausdruck, als wolle er sagen »Alles wird gut«, aber ich fühle mich dadurch nur noch schlechter.
Dann endlich ertönt das Klingeln, das uns erlaubt, vom Tisch aufzustehen. Ich springe auf, wobei mein Stuhl umfällt. Es ist mir egal, ich möchte bloß nach Hause. Schnell zwänge ich mich in der Schlange an meinen Vordermännern vorbei. Sie beschweren sich lauthals über meine Unverfrorenheit, aber ich ignoriere sie. Für gewöhnlich verlassen wir geordnet die Tische, jeder weiß genau, wem er zu folgen hat. Heute missachte ich die Regeln. Ich schubse Menschen zur Seite, weil ich mich danach sehne, allein zu sein. Hinter mir höre ich ein
Hey! Holly!
Es ist Neal. Er folgt mir. Ich verlangsame mein Tempo jedoch nicht. Als ich mich aus dem Tor zum Park gezwängt habe und endlich wieder den Asphalt unter meinen Füßen spüre, fange ich an zu laufen. Schnelle Schritte tappen hinter mir.
»Holly, bleib stehen!« Neal hat noch immer nicht aufgegeben. Mir rinnen nun ungehindert Tränen die Wangen hinab. Ich möchte nicht, dass er mich so sieht.
Durch den Tränenschleier kann ich kaum etwas sehen, aber zum Glück führt die Straße geradeaus nach Süden. Sie ist menschenleer, weil ich die vom Park aus nach Hause strömende Menge längst überholt habe.
Eine Hand legt sich auf meine Schulter, reißt mich zurück und zwingt mich, stehen zu bleiben. Beinahe wäre ich gefallen. Wutentbrannt schlage ich mit den Fäusten um mich, aber Neal umarmt mich und klemmt meine Oberarme ein. Ich kneife die Augen zu und reiße den Kopf herum, damit ich ihn nicht ansehen muss.
»Holly, was ist denn nur los mit dir?« Er schreit mich nicht an, seine Stimme ist ganz ruhig. Mein Herz rast, ich möchte weiterlaufen und nicht vom ihm festgehalten werden.
»Sieh mich an«, sagt er.
Ich lasse Sekunden verstreichen. Aber Neal lässt nicht los. Mit unvermindertem Druck klemmt er meine Arme ein. Mir wird bewusst, dass er mich aus dieser unangenehmen Situation nicht entlassen wird, deshalb öffne ich die Augen. Sie brennen und sind sicherlich ganz rot. Sein Gesicht ist nah vor meinem, ich rieche seine frisch gewaschenen Haare. Als wir heute morgen im Badehaus gewesen sind, war meine Welt noch in Ordnung gewesen.
Langsam lockert Neal seinen Griff und lässt mich los. Ich schlage nicht mehr um mich und wische mir mit dem Handrücken über das tränennasse Gesicht.
»Lass uns nach Hause gehen.« Er legt seine Hand auf meine Schulter. Gemeinsam gehen wir weiter - langsam und nicht mehr, als seien wir auf der Flucht.
»Das ist ungerecht«, sage ich und ziehe geräuschvoll die Nase hoch.
»Was ist ungerecht? Dass du hier bei mir bleiben musst?« Er zwinkert. Ich weiß, dass er mich nur aufheitern will.
»Weshalb hasst mich das Schicksal?«
»Ach, Holly. Das Schicksal hasst dich doch nicht. Hast du dich eigentlich selbst mal reden gehört? Es ist doch überhaupt nichts Schlimmes passiert. Du hättest damit rechnen müssen, dass du nicht erwählt wirst.«
»Es wäre mir aber leichter gefallen, wenn das Los nicht auf Suzie gefallen wäre.« Es tut mir gut, mir den Schmerz von der Seele zu reden. Ich weiß sehr wohl, dass ich unfair bin. Und ich liebe Neal
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