Glutroter Mond
keinen Kuchen möchte, stopfe ich ihn mir in den Mund, alles auf einmal. Die Süße legt sich um meine Zunge. Das bin ich nicht gewohnt. Ich kaue kaum, sondern schlinge ihn herunter.
»So. Lasst ihr mich jetzt in Ruhe?«
Meine Güte, ich verhalte mich tatsächlich wie ein Kind. Ich verschränke die Arme vor der Brust. Ich sehne den Moment herbei, wenn ich endlich allein in meinem Bett liege.
Alle Menschen warten auf das Signal, dass wir aufstehen und den Park bezirksweise verlassen dürfen, aber es kommt nicht. Das Gemurmel der Leute wird immer lauter.
»Wir begrüßen die diesjährigen Anwärter auf ein Amt innerhalb des Systems«, ertönt es plötzlich. Ich fahre zusammen. Auf dem Dach des Containers steht eine Frau im schwarzen Anzug der Obersten, in ihrer Hand hält sie ein trichterförmiges Gerät, das ihre Stimme verstärkt. Augenblicklich verstummen alle Gespräche.
»Bevor Sie Ihren Platz verlassen und in Ihre Bezirke zurückkehren, fordere ich die Auserwählten auf, nach vorne zu treten. Kommen Sie bitte zu meinem Kollegen, der ihre Identitäten überprüfen wird.« Die Frau deutet auf einen Mann, der neben dem Container steht. Mir fällt auf, dass ihre Stimme sehr nüchtern klingt, als hätte sie die Prozedur schon mehrfach hinter sich gebracht.
»Danach gehen wir gemeinsam zum Landeplatz des Hubschraubers und überfliegen den Fluss. Erst in der Zentrale werden Sie Ihre schwarzen Anzüge und weitere Instruktionen erhalten.«
Suzie quietscht vergnügt auf. Auch das noch! Sie dürfen mit dem Hubschrauber fliegen und müssen die Stadt nicht über die Brücke verlassen. Irgendwo in der Kuppel des Energieschildes gibt es ein unsichtbares Tor, das die Hubschrauber hindurch fliegen lässt. Carl hat mir einmal erzählt, die Hubschrauber fänden die Koordinaten des Durchlasses automatisch, denn mit dem bloßen Auge kann man den Energieschild kaum sehen. Ich habe mir immer gewünscht, die Stadt einmal von oben sehen zu dürfen. Wie viele Schläge ins Gesicht werde ich heute noch bekommen? Im letzten Jahr hat man die Rekruten in ein Auto gesetzt. Ich kann mich nicht daran erinnern, dass man sie je mit dem Hubschrauber hat fliegen lassen. Weshalb ausgerechnet dieses Jahr?
Ich senke den Kopf und starre auf die Tischplatte. Neben mir wird ein Stuhl zurückgeschoben. Suzie steht auf. Im Augenwinkel sehe ich, wie sie sich über den Tisch beugt und Neal die Hand gibt. »Mach's gut«, flüstert er ihr zu. Carl schiebt auf meiner rechten Seite ebenfalls den Stuhl zurück. Er geht an mir vorbei. Jetzt hebe ich doch den Blick. Carl umarmt Suzie, so lang und fest, dass es mir einen Stich der Eifersucht in die Brust jagt. Er löst sich von ihr, eine Träne glitzert in seinem Auge. Als letztes küsst die stille Candice sie auf die Wange. Links, rechts, links. Sie wünscht ihr alles Gute. Nun bin ich an der Reihe. Es ist mir unangenehm. Mir ist bewusst, dass alle Augen am Tisch auf uns gerichtet sind.
Ich strecke Suzie die Hand entgegen, aber ich stehe nicht vom Stuhl auf. Kurz greift sie danach, ein flüchtiger, leichter Händedruck, mehr nicht. Ich versuche zu lächeln, dabei muss ich schon wieder Tränen unterdrücken.
»Lebwohl«, presse ich hervor. Es fällt mir unendlich schwer. Suzie nickt. Ihr Mund verzieht sich zu einem schiefen Grinsen, das ich nicht deuten kann. Es überfordert mich, ein kalter Schauder läuft mir über den Rücken. Genießt sie meine Qual? Nein, das ist Unsinn. Ich hätte mich an ihrer Stelle ebenso gefreut, ohne Rücksicht darauf, ob es ihr weh tut. Eine bittere Erkenntnis.
Als wir alle wieder auf unseren Plätzen sitzen, wendet sich Suzie mit einem Seufzen von uns ab. Sie streicht sich die blonden Haare zurück und strafft die Schultern, ehe sie an den Tischreihen vorübergeht und sich zu dem
Obersten neben den Container stellt. Es wird das letzte Mal sein, dass sie einen gelben Anzug trägt. Ich frage mich, ob ich sie je wiedersehen werde. Manche Rekruten kehren früher oder später in die Stadt zurück, weil sie bei der Nahrungsausgabe helfen oder einer anderen Aufgabe nachkommen. Jedoch sprechen sie nicht mehr mit uns. Vielleicht ist das eine Vorschrift. Mein Blick irrt zu Neal herüber, der irgendwie erleichtert wirkt. Er lächelt zufrieden. Wenn ich ihn ansehe, wird es mir warm ums Herz. Um ihn hätte es mir sehr leid getan, hätte ich gehen müssen.
Neben Suzie stehen noch drei andere Rekruten, es sind alles junge Männer. Zwei von ihnen grinsen breit, der dritte wirkt eher
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