Glutroter Mond
elf
Holly
Mir rutscht das Herz in die Hose, als wie aus dem Nichts fünf Menschen auf uns zukommen, alle in schwarze einteilige Anzüge gekleidet. Unwillkürlich stoße ich einen kurzen Schrei aus. Im ersten Moment bin ich nicht in der Lage, die Situation zu begreifen, bis mir plötzlich klar wird, dass es sich um Oberste handelt. Wollen sie uns retten? Mich durchzuckt der Impuls, ihnen entgegenzulaufen, doch sie wirken so bedrohlich, dass ich mich nicht von der Stelle bewege. Vielleicht halten sie uns ebenfalls für Mitglieder von Cades Sippe? Unmöglich. Neal und ich tragen noch immer unsere Einheitsanzüge, wenn auch inzwischen arg verdreckt.
Ich komme nicht mehr zu einer Entscheidung, denn ich habe zu lange gezögert, genau wie Neal. Mit einer übermenschlich schnellen Bewegung steht Cade plötzlich hinter uns, er schlingt seinen linken Arm von hinten um Neals Hals, in der rechten, die meine Taille umfasst, liegt noch immer seine Pistole. Neal packt nach Cades Unterarm und versucht den Druck von seiner Kehle zu nehmen, aber Cade hält ihn unerbittlich im Würgegriff. Der Lauf seiner Waffe presst sich unangenehm in meine Seite.
Die fünf Personen - ich zähle eine Frau und vier Männer - kreisen uns ein. Auch sie sind mit Pistolen bewaffnet. Sie zielen in unsere Richtung. Einer von ihnen trägt etwas auf dem Rücken, das wie ein Rucksack aussieht. Einen Plastikbehälter, so lang wie mein Unterarm. Ein langer Schlauch ragt daraus hervor, mehr als Fingerdick. Dessen Ende hält der Mann ebenfalls auf uns gerichtet. Was ist das? Mein Herz scheint zu explodieren, so heftig schlägt es.
»Bitte, befreit uns!«, ruft Neal, aber seine Stimme klingt erstickt. »Wir sind aus der Stadt!«
Die Obersten reagieren nicht auf seine Worte. Ich bin mir sicher, sie haben die Situation längst erfasst. Woher sind sie nur gekommen? Sie müssen uns gefolgt sein, denn in diese Einöde würde sich niemand zufällig verirren.
Ich sehe in ihre Gesichter. Sie ähneln sich sehr. Ihre Mimik ist starr, emotionslos. Bei keinem von ihnen zuckt auch nur ein Mundwinkel. Mich schockiert, was ich sehe, obwohl ich mir den Grund nicht erklären kann. Wie kann ein Mensch so kalt sein? Nicht einmal Cade hat so wenig Regung gezeigt, und selbst ihn habe ich anfangs für gefühlsarm gehalten.
»Du schon wieder!«, ruft einer von den V23ern. Ein Mann mit mausbraunem Haar. Inzwischen stehen alle fünf Obersten in einem Abstand von etwa drei bis vier Yards um uns herum. »Bist du uns nicht erst kürzlich entwischt? Man sieht sich immer zweimal im Leben. Und jetzt gib die Geiseln frei!«
Cade schnaubt, ich spüre seinen Atem auf meiner Kopfhaut. Eine Gänsehaut überzieht meine Arme und meinen Rücken. »Ihr seid doch alle Geiseln des Systems, merkt ihr das eigentlich nicht? Befreit euch selbst und lasst mich in Frieden.«
Er nimmt die Pistole aus meiner Taille und schwenkt sie langsam von links nach rechts, den Obersten entgegen. Er hätte keine Chance, sie alle zu erschießen. Oder doch? Cade ist schnell ...
Der Mann mit dem Rucksack tritt einen Schritt nach vorne, er betätigt einen Hebel am Ende des Schlauches, woraufhin eine klare Flüssigkeit herausspritzt. Ich schnappe erschrocken nach Luft, als der Strahl Neal, Cade und mich trifft. Aus irgendeinem Grund erwarte ich Schmerzen, aber es ist einfach nur kalt. Wasser?! Es durchnässt meine Haare und läuft mir am Hals entlang in den Ausschnitt meines Anzugs.
Der Druck auf meine Taille lässt abrupt nach, auch Neal kann sich endlich freikämpfen. Ich höre Cade hinter mir stöhnen und fahre herum. Er hat sichtlich Mühe, sich auf den Beinen zu halten. Sein Gesicht ist schmerzverzerrt, mit den Armen versucht er, den Wasserstrahl von sich abzuhalten. Der Mann, der auf ihn geschossen hat, stellt das Feuer - oder besser gesagt: das Wasser - ein. Cade taumelt rückwärts, doch zu meiner Überraschung greift er zuvor wieder um meine Taille und zerrt mich mit sich. Neal ist indes nach vorne geflüchtet, den Obersten entgegen. Einer von ihnen spricht ihn an. »Bleib hinter uns«, höre ich ihn sagen. Neal nickt. Er wirft mir einen flehenden Blick zu, der zugleich auch anklagend ist, als wollte er sagen: »Weshalb bist du nicht geflüchtet, als Zeit dazu war?«
Ich hätte Zeit gehabt. Mehrere Sekunden sogar. Aber ich habe sie verstreichen lassen, weil ich Cade angestarrt habe. Sein Schmerz ist auch mir durch Mark und Bein gegangen. Es hätte mir egal sein sollen, immerhin ist er mein Entführer,
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