Glutroter Mond
würde ich mir lieber selbst die Kehle herausreißen.«
Cade rutscht ein wenig tiefer am Reifen herunter. Er streckt beide Beine von sich. Jetzt liegt er mehr als dass er sitzt. Eine Ironie des Schicksals, dass er den Pistolenschuss überlebt hat und jetzt verhungern wird.
»Weshalb haben dich die Obersten nicht getötet?«
Cade stöhnt ein weiteres Mal, ehe er antwortet. »Vielleicht haben sie mich bereits für tot gehalten. Was weiß ich. Sie haben mich jedenfalls liegen lassen.«
Er schließt die Augen, sein Atem geht nur noch unregelmäßig. Mein Herz fängt wieder an, heftig zu pochen. Cade sagt jetzt nichts mehr, und sein Gesicht verliert noch mehr Farbe. Ich weiß instinktiv, dass ich ihm gerade beim Sterben zusehe. Hat die Heilung seiner Wunde tatsächlich so viel seiner Energie gefressen? Mich schockiert, wie schnell es geht. Gerade noch hat er mir ins Gesicht gelacht.
Ich möchte nicht, dass er stirbt. Ich sehe in ihm meine einzige Chance, diesen Ort je wieder zu verlassen. Ich habe keine Ahnung, wie man ein Auto steuert, und ich fürchte mich auch davor. Ich kann mir nicht vorstellen, dass die Obersten noch einmal zurückkehren, um mich zu holen. Sie haben immerhin auch keinen Versuch gestartet, mich mitzunehmen, als sie aufgebrochen sind.
»Cade?« Meine Stimme ist nur ein Flüstern. Er reagiert nicht. Verdammt, weshalb jagt mir das nur solch einen Schreck ein? Ich bin beinahe panisch, fasse an seine Schultern und schüttele ihn leicht. Er rührt sich nicht, seine Haut fühlt sich seltsam kühl an. Inzwischen kann ich kaum noch Atemgeräusche wahrnehmen.
Ich lege meinen Kopf auf seine Brust, um zu hören, ob sein Herz noch schlägt. Ich kann es hören, schwach. Eine Träne löst sich aus meinem Augenwinkel und tropft auf Cades Hemd.
Mich durchfährt ein eigenartiges Gefühl. Schwindel packt mich, zugleich kommt es mir vor, als würde sich die Umgebungstemperatur abkühlen. Plötzlich verlieren meine Gedanken an Kontur, meine Verzweiflung löst sich auf, langsam. Sie zersetzt sich, Stück für Stück. Auch die Angst ist für mich mit einem Mal nicht mehr greifbar. Es ist, als würde ich mich an einen Traum zu erinnern versuchen, dessen verwobene Fäden sich zunehmend auflösen. Mir ist plötzlich gleichgültig, ob ich sterbe. Meine Emotionen scheinen aus mir heraus zu fließen. Ich fühle mich wie kurz vor dem Einschlafen, wenn man vergisst, wer und wo man ist. Es ist kein unangenehmes Gefühl, nur seltsam. Mir schießen Fragmente von Erinnerungen durch den Kopf. Ich sehe Carl, der sonderbar jung aussieht. Er trägt mich auf dem Arm. Ich höre mein eigenes Lachen, kindlich und jung. Dann reißt mich der Strom der Gedanken an einen anderen Ort. Neals leuchtende Augen, die Narbe über seinem rechten Auge. Meine Hand in seiner. Sie ist warm um rau. Er riecht nach Staub und Sommerluft. Als sich auch dieses Bild auflöst, treibt es mich zu einer Szene, die mir gänzlich unbekannt vorkommt. Mehrere schwarz gekleidete Männer stehen um mich herum. Einer grinst schief, ein anderer schlägt mir freundschaftlich auf die Schulter. Ich sehe durch die Augen eines Fremden. Das sind nicht meine eigenen Erinnerungen. Wir stehen auf dem Gehsteig neben einer breiten Straße. Es ist laut, das Rauschen von vorbei rasenden Autos dröhnt mir in den Ohren. Es sind viele. Sehr viele. Hunderte. So viele Autos habe ich noch nie gesehen. Es ist Nacht, aber der Gehsteig ist voll mit Menschen. Sie drängen an uns vorbei, ohne uns eines Blickes zu würdigen. Sie sind seltsam gekleidet, alle unterschiedlich in bunten Jacken und Hosen. Dann erst werde ich mir der Lichter um mich herum gewahr. Hohe Häuser, wie die in meiner Stadt, aber diese hier sind nicht zerstört. Ich sehe tausend hell erleuchtete Fenster, blinkende Neonschrift über den Hauseingängen. Fremde Gerüche steigen mir in die Nase. Es ist überwältigend. Dann ist der Traum jäh vorbei.
Ich spüre Cades Hand auf meinem Rücken. Er hat sie gehoben und auf mich gelegt, als wolle er mich umarmen. Mit der anderen Hand stützt er sich ab und schiebt sich wieder nach oben, ich rutsche von seiner Brust herunter. Mir ist noch immer schwindlig. Es kostet mich viel Anstrengung, aufrecht zu sitzen.
Nur langsam schärft sich das Bild vor meinen Augen. Mir ist übel. Cade hat die Augen geöffnet, doch blass ist er noch immer. Er starrt mich an, als hätte er einen Geist gesehen. Ich bin erleichtert, dass er überhaupt noch lebt.
»Wie ist das möglich?« Seine Stimme jagt
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