Glutroter Mond
das Schwarze unter den Fingernägeln nicht. Wie rührend, dass es anscheinend auch noch anders geht.
Die Alte hat tatsächlich den Schneid, mich am Ärmel zu packen, aber ich stoße sie mit wenig Kraftaufwand von mir weg. Dennoch landet sie auf ihrem Hinterteil. Manchmal bin ich mir meiner Stärke nicht bewusst.
Ich drehe mich noch einmal zu ihr um, sie sieht mich mit geweiteten Augen an, noch immer auf dem Boden sitzend. Ich sehe Angst und Entsetzen in ihrem Gesicht. Ihr Mund öffnet und schließt sich wie bei einem Fisch, aber kein Laut dringt aus ihrer Kehle.
»Seien Sie einfach still und gehen wieder an ihre Arbeit«, knurre ich. »Dann passiert niemandem etwas. Ich gehe und bin nie hier gewesen. Verstanden?«
Sie nickt. Ich sehe deutlich, wie sie zittert. Sie weiß nun, was ich bin. Die Leute sind nicht dämlich. Zum Glück reicht ihr Verstand so weit, mir nicht zu widersprechen.
Bevor sie um Hilfe rufen kann, verlasse ich das Gebäude wieder und tauche in die verlassenen Straßen ein, bewusst einen Umweg nehmend.
Ich hätte zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen können, geht es mit mir durch den Kopf. Ich hätte die Alte auch als Nahrung für mich benutzen und damit verhindern können, dass sie die ganze Stadt in Alarmbereitschaft versetzt. Weshalb habe ich es nicht getan? Meine letzte Mahlzeit liegt auch schon mehr als zwei Tage zurück. Ungewöhnlich, dass ich so lange keinen Hunger verspüre. Ich verdränge den Gedanken, dass es etwas mit der allgemeinen Veränderung zu tun haben könnte, die seit einiger Zeit mit mir durchgeht. Seit Holly mich von ihren emotionalen Schwingungen hat kosten lassen, ist nichts mehr, wie es einmal war. Als brodelten sie in meinem Inneren, infizierten meine Eingeweide und breiteten sich aus wie ein Geschwür. Sie existieren in mir weiter, anstatt von meinem Selbst verschlungen und vernichtet zu werden. Ich kann und möchte den Gedanken nicht weiterführen. Er beunruhigt mich.
Ich nähere mich dem Hafenviertel, wo ich Holly zurückgelassen habe. Ich habe längst nicht alles erledigt, was hätte erledigt werden müssen. Ursprünglich hatte ich mir vorgenommen, auch Nahrung für mich zu finden. Diese fixe Idee habe ich begraben. Dennoch fehlt mir nach wie vor eine Lösung für das Problem der fehlenden Platine. Ich glaube nicht daran, in dieser Stadt fündig zu werden. Hier werde ich keine Rohstoffe bekommen können. Ich bin mir nicht einmal sicher, ob ich überhaupt in der Lage sein würde, das Teil noch einmal nachzubauen. Es war ein einmaliger Glücksgriff. Aber wie beichte ich es Sienna, Layton und den anderen, dass dieser idiotische Neal das Ding bei sich hat? Ich hätte Neal nicht einmal aus seiner Zelle befreien dürfen. Wie ich es auch drehe und wende, mir fällt keine Ausrede ein.
Ich krempele meine Ärmel hoch, weil mir warm ist. Die Sonne scheint auf mich herab und heizt auch den Asphalt auf. Die Luft darüber flirrt. Mir fällt der letzte Punkt auf der Liste unerledigter Dinge wieder ein. Mein Tattoo. Das Tattoo, das täuschend echt aussieht, wie das schwarze Mal, das meine Sippe mit den V23ern teilt und doch keines ist. Ich muss es demnächst erweitern. Es muss sich ausbreiten, sonst glaubt mir niemand mehr meine Geschichte. Verdammt, es ist schon fast an der Schulter angelangt. Wie alt mag der Körper sein, den ich momentan bewohne? Schon Mitte zwanzig? Wie lange kann ich das Spiel noch mitspielen, ehe ich wieder verschwinden und meine Sippe zurücklassen muss? Manchmal frage ich mich, weshalb ich mich überhaupt verstecke und wovor ich Angst habe. Ein ums andere Mal nehme ich mir vor, dass beim nächsten Körper alles anders wird und ich mich offenbaren werde. Und doch finde ich nie den Mut. Seit Jahrhunderten nicht. Meine Sippe weiß, dass es Wesen wie mich gibt, sie ahnen jedoch nicht, dass sie mit einem solchen das Dach über dem Kopf teilen. Ja, ich bin ein Acrai. Aber keiner wie sie ...
»Cade?«
Ich fahre zusammen, beinahe hätte ich das Brot fallen gelassen. Ich drehe mich ruckartig um, der Stimme entgegen. An einem verbeulten und verrosteten Garagentor lehnt Vince. Ausgerechnet der! Wie kommt er hierher? Was hat er hier zu suchen?
Er scheint die Frage in meinem Gesicht gelesen zu haben, denn er verzieht den Mund zu einem schiefen Grinsen, das ich ihm am liebsten aus dem Gesicht gewischt hätte. Ich gehe auf ihn zu. Festen Schrittes, damit er bloß nicht glaubt, ich hätte etwas zu verbergen. Vor ihm bleibe ich stehen und straffe die
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