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Glutroter Mond

Glutroter Mond

Titel: Glutroter Mond Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Narcia Kensing
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der schwarz gekleidet durch die Straßen zieht und Seelen zu sich holt. Mich amüsiert die Vorstellung ein wenig.
    Endlich erreiche ich die Auffahrt zu dem Betonklotz, der im Erdgeschoss die Küche beherbergen soll. Man hat sich bemüht, alle Spuren eines regelmäßigen Gebrauchs zu verwischen, um keine V23er anzulocken, aber einem geübten Auge entgehen die Fußabdrücke im Staub nicht, die frischen Rußspuren an dem Kaminrohr über dem Ofen oder die mit Laken verhängten Fenster. Außerdem riecht es nach Essen. Okay, das hätte eine menschliche Nase vielleicht nicht wahrgenommen. Ich schon. Es widert mich an, aber ich zwinge mich trotzdem, die Treppe zur morschen breiten Eingangtür hinaufzusteigen. Ich verhalte mich so ruhig wie möglich, als wäre ich nur ein Mensch, der hier nach etwas Essbarem sucht. Ich möchte nicht den Eindruck erwecken, in schlechter Absicht zu kommen. Eigentlich tue ich das auch nicht. Ich habe zwar selbst auch noch nichts gegessen, aber im Moment ist mir nicht danach. Wenn mich der Hunger überkommen sollte, suche ich mir jemanden in einer verlasseneren Ecke als diese hier. Ich kann hysterisches Gekreische nicht ertragen.
    Hinter der Tür riecht es jetzt deutlich nach frisch gebackenem Brot. Hatte ich also recht behalten. Hier wird Essen zubereitet.
    Ich trete ich einen großen Flur, der eher wie ein Foyer aussieht. Er ist vollkommen leer, bis auf den Staub, der in dieser verlassenen Welt einfach auf allem zu liegen scheint. An einer Wand hängt ein zerrissenes und völlig verblasstes Plakat, aber ich glaube, darauf den Aufruf zur Teilnahme einer Jahresabschlussparty zu erkennen. Die Schüler des Wirtschaftskurses laden ein ... Aha. Also eine Schule. Vielleicht eine Berufschule? Und was hat ihnen der Wirtschaftskurs genützt? Es gibt keine Wirtschaft mehr. Hätten sie mal ein bisschen weniger gefeiert.
    Meine Schritte hallen von den Wänden wider. Mehrere Türen zweigen von hier aus ab. Ich steuere auf die zu, aus der ich den Geruch am stärksten wahrnehme.
    Ohne lange darüber nachzudenken, stoße ich sie auf. Hitze schlägt mir entgegen. Im hinteren Teil des Raums glüht ein Ofen. Davor liegen auf einem Tisch mehrere Laibe Brot. Hässliche und unförmige Fladen. Nichts, das von großer Bäckerskunst zeugen würde.
    Zu meiner Erleichterung befindet sich nur eine einzige Frau im Raum, sonst niemand. Sie trägt ein Kopftuch und eine Schürze. Ich schätze sie in den mittleren Jahren, vielleicht ist sie aber auch erst dreißig. Ihr Gesicht ist eingefallen und sie macht nicht den gesündesten Eindruck. Das tut keiner der freien Menschen. Auch in New York sind die Leute dünn, aber sie bekommen wenigstens regelmäßige Mahlzeiten. Das Leben als unabhängiger Rebell ist da schon etwas beschwerlicher. Kein V23er serviert einem das Essen. Dafür wird man aber auch nicht zu Versuchszwecken gequält. Kann man sich jetzt aussuchen, was einem lieber ist.
    Als die Frau mich sieht, fasst sie sich an die Brust und atmet geräuschvoll ein. »Sie haben mich erschreckt! Ich dachte schon, Sie wären einer von denen.«
    Sie betont das Wort bewusst abfällig. Ich weiß nicht, wie sie darauf kommt, dass ich
keiner
von
denen
bin, immerhin bin ich schwarz gekleidet. Aber vermutlich irritiert es sie, dass ich mich ruhig verhalte und nicht um mich schieße.
    Ich habe allerdings auch keine Lust zu diskutieren. Sie wird mir nicht freiwillig eines ihrer Brote geben, so viel ist klar. Ich trete wortlos auf den Tisch zu und nehme mir einen Laib herunter.
    »Hey, das ist keine Selbstbedienung! Sie müssen mir schon ihre Nummer sagen und ich sehe in der Liste nach, ob ihnen etwas zusteht. Ohne Gegenleistung gibt es kein Brot.«
    Aha. Die Leute hier sind also so weit organisiert, dass sie Listen darüber führen, wer etwas für die Gemeinschaft geleistet hat. Es ist mir einerlei. Ich lasse mich von einem dürren Weib nicht aufhalten. Anscheinend rechnet sie auch gar nicht damit, dass jemand so unverschämt sein könnte wie ich, denn ich sehe ihr die Ratlosigkeit deutlich an.
    Sie kommt auf mich zu, fasst mich jedoch nicht an. Sie versucht, mit mir Schritt zu halten, als ich mich mit dem Brot unter dem Arm entferne.
    »Geben Sie das Brot wieder her!«
    »Sonst was?« Ich weiß, dass sie mir nichts tun wird. Nichts tun
kann
. Wie töricht von den Leuten hier, sich gegenseitig so weit zu vertrauen, dass sie eine Frau alleine Brot backen lassen! Da sind die Leute in Manhattan wesentlich misstrauischer. Sie gönnen einander

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