Glutroter Mond
Schultern.
»Du fragst dich sicher, wie ich hierher gekommen bin?«
Allerdings. Das tue ich.
»Stell dir vor, in der Nähe unseres Quartiers schleichen V23er herum. Ich wollte sie nicht auf unsere Spur locken, deshalb bin ich ein ganzes Stück zu Fuß den Highway entlang gegangen. An einer alten Tankstelle habe ich ein Motorrad gefunden. Glaubt man's? Einfach so. Ich glaube, der Besitzer hat irgendwo in der Nähe seinen Rausch ausgeschlafen. Keine Ahnung. V23er hätten ihre Fahrzeuge nicht einfach so herumstehen lassen. Kam mir jedenfalls sehr gelegen.«
Ich denke an Harry, den alten Drogendealer, der gerne einen über den Durst trinkt. Er fährt häufig durch die Ortschaften. Er scheint vom Pech verfolgt zu sein. Erst bekommt er kein
Euphoria
von mir, dann stiehlt jemand sein Motorrad. Beinahe empfinde ich Mitleid.
»Weshalb bist du überhaupt nach draußen gegangen?«, frage ich. »Wenn sie dich entdeckt und unser Quartier gefunden hätten, wäre das einer Katastrophe gleichgekommen.«
Vince streckt mir die Handflächen entgegen und macht eine beschwichtigende Geste. »Wir haben alle gedacht, du seiest tot. Seit zwei Tagen kein Lebenszeichen von dir, dabei solltest du doch nur das Mädchen um seine Seele erleichtern.« Er grinst schon wieder. Erneut verspüre ich den Drang, ihm die Zähne auszuschlagen. »Stattdessen warst du weg.
Mit
dem Auto. Wir hatten keine Nahrung mehr und mussten weit gehen, um irgendwo Menschen aufzutreiben. Deshalb bin ich rausgegangen. Der junge Mann in Zelle drei war nämlich auch verschwunden.«
»
War
?«
»Ja, es muss ihm gelungen sein abzuhauen. Vielleicht war die Tür nicht geschlossen, keine Ahnung. Er ist aber jetzt wieder da. Layton hat ihn eingefangen, als er in der Umgebung herumgeirrt ist. Layton hat nämlich endlich den Generator repariert.« Ein vowurfsvoller Blick. »Und soll ich dir etwas ganz Abenteuerliches erzählen?« Er senkt die Stimme zu einem Flüstern und winkt mich näher zu sich heran. Ich beuge mich zu ihm herüber, obwohl das meine Aggressionen ihm gegenüber nur verstärkt. »Er hatte die Platine unserer Maschine bei sich. Unglaublich, oder?«
Im ersten Moment bin ich perplex. Ich weiß gar nicht, was ich dazu sagen soll. Neal ist wieder da? Unmöglich! Haben die V23er ihn etwa einfach irgendwo ausgesetzt? Ich kann das kaum glauben. Zum Glück deutet Vince meinen entgeisterten Gesichtausdruck falsch.
»Ja, Mann. Ich konnte es auch kaum fassen, dass der Kerl abhauen konnte. Wir waren aber alle froh, dass die Maschine jetzt wieder funktioniert. Und nun treffe ich dich hier, wo ich dachte, du seiest den V23ern zum Opfer gefallen. Heute ist unser Glückstag.«
Ich muss mich dazu zwingen, einen klaren Gedanken zu fassen und einen geraden Satz herauszubringen. »Ich
bin
beinahe den V23ern zum Opfer gefallen. Ich war verletzt.« Ich verschweige die Sache mit Holly besser komplett.
Vince nickt. Er scheint mit meiner Erklärung zufrieden zu sein, denn er hakt nicht weiter nach.
»Und was machst du jetzt in Jersey City?«, frage ich, um vom Thema abzulenken.
»Menschen jagen, was sonst? Der Junge reicht nicht für alle. Zumindest nicht lange. Das Mädel ist tot und in der näheren Umgebung des Quartiers bin ich nicht fündig geworden. Da haben wir in den letzten Jahren schon alles abgegrast. Das Motorrad kam mir wie gerufen.«
Wie er das sagt! Als wären wir Heuschrecken, die über Felder herfallen wie eine Welle der Zerstörung und alles wegfressen, das lebt. Na ja. Ganz abwegig ist der Vergleich nicht. Es fällt mir nur zum ersten Mal auf.
In meinem Inneren wüten die unterschiedlichsten Emotionen. Seltsam, dass da überhaupt etwas wütet, wo zuvor nichts gewesen ist. Zumindest nichts als Wut und Verbitterung. Einerseits freue ich mich, dass die Platine wieder da ist und eines meiner Probleme sich in Luft aufgelöst hat. Aber ich freue mich nicht darüber, dass das zwangsläufig bedeutet, dass ich Holly mit dem Wissen nach Manhattan zurückbringen muss, dass Neal dort nicht ist. Ich habe ein schlechtes Gewissen deshalb. Pah! Ich sollte mal langsam wieder klar im Kopf werden.
»Weshalb schleppst du ein Brot mit dir herum, Alter? Bist du zu fester Nahrung übergegangen?« Vince lacht, kalt und ohne Herz. Auch das fällt mir heute zum ersten Mal auf.
Ich sehe auf den goldbraunen Laib hinab, der unter meinem Arm klemmt. Ich spüre, wie mir Blut in den Kopf steigt. Eine Ausrede. Jetzt. Schnell.
»Ich habe es gefunden und mir gedacht, dass wir damit
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