Gnade
musste, wusste, was wirkte. Der Mut verlieà ihn und er blieb stumm.
Johan blieb stumm.
Nachts dachte er: Sie hätte es lassen können, mir davon zu erzählen. Sie hätte sagen können, dass sie wegen irgendeiner Frauensache ins Krankenhaus muss, nichts Beunruhigendes, ein ganz gewöhnlicher Eingriff. Sie hätte es auf die gleiche unbeschwerte Art und Weise sagen können, wie sie sagte, dass die Sonne schien, das Fenster offen stand, eine frühlingshafte Brise wehte. Sie hatte die Entscheidung ja bereits getroffen. Sie wollte seine Einwände nicht, seine Unterstützung, seinen Standpunkt. Sie war schneller als er und sie hatte sich entschieden.
Nach der Abtreibung holte er sie im Krankenhaus ab.
Sie sagte erst wieder etwas, als sie im Auto saÃen. Dort drehte sie sich zu ihm und flüsterte:
»Ich will nicht darüber reden. Das hier ist für uns kein Thema.«
Johan starrte vor sich hin, steuerte das Auto über die StraÃe.
»Na gut«, sagte er.
Sie sah ihn unverwandt an.
Er fuhr Richtung Majorstua. Er wollte sie nicht anschauen.
»Willst du wissen, was es war?«
Ihre Stimme war leise.
»Du willst nicht darüber reden, hast du gesagt.«
»Nein. Aber willst du wissen, was es war? Ich habe gefragt und sie haben es mir gesagt.«
»Ich weià nicht, ob ich ausgerechnet das wissen will, Mai.«
»Ein Mädchen. Es war ein Mädchen.«
Â
Die Episode mit dem Mädchen wurde nicht wieder erwähnt. Nicht das schlagende Herz. Auch nicht die achtundzwanzig Liter Blut am Tag. Und als Mai vierzig wurde, feierte er sie wie eine Königin. Frühstück im Bett, Mittagessen im Grün des Frognerparks und Abendessen im Restaurant. Als Geschenk erhielt sie einen Welpen und ein kleines silbernes Kruzifix, das sie sich gewünscht hatte. Johan war kein Christ, aber Mai sagte oft, dass es nicht schaden könne, zu glauben
 â ohne die vage Formulierung weiter vertiefen zu wollen. Sie trug ein langes blaues Baumwollkleid, und in ihre Haare, die immer noch blond waren, hatte sie eine gelbe Rose gesteckt. Sie sah aus wie ein junges Mädchen. Der Ober im Restaurant hielt sie für Johans Tochter.
Erst als ihre Haare grau wurden, und das wurden sie nahezu über Nacht, wenige Jahre bevor sie fünfzig wurde, hielten Fremde sie nicht mehr für Vater und Tochter.
Â
Johan hingegen sah älter aus, als er war.
Als er an jenem Tag im Wartezimmer saà und darauf wartete, vom Arzt aufgerufen zu werden, nicht wissend, dass sein Zustand alarmierend war, machte er die Bekanntschaft eines kleinen Mädchens mit zerzausten Haaren. Sie musste auch zum Arzt und saà zusammen mit ihrer Mutter im Wartezimmer.
Wie alt mag sie gewesen sein?
Fünf Jahre? Sieben? Vier?
Johan konnte das Alter von Kindern nicht schätzen, er wusste auch nie, wie alt sein Sohn Andreas war. (Obwohl er stets genau wusste, wie viele Jahre es her war, dass sie zuletzt miteinander gesprochen hatten.) Das kleine, zerzauste Mädchen spazierte durchs Wartezimmer, kroch auf einen Stuhl neben ihm und rief nahezu: »Ich hoffe, dass ich nie so alt und faltig werde wie du.«
Die Mutter sah von ihrer Zeitschrift auf, schimpfte mit dem Kind und bat Johan dazwischen wiederholt um Entschuldigung. Johan schüttelte zu den Entschuldigungen der Mutter den Kopf, lächelte und fragte das Mädchen: »Was glaubst du denn, wie alt ich bin?«
Das Mädchen legte den Kopf schief und kniff die Augen zu kleinen Schlitzen zusammen, um ihm zu zeigen, dass sie wirklich über die Sache nachdachte. So saà sie eine Weile und starrte Johan an, bis er verlegen wurde. Und dann streckte sie die Hand aus, spreizte ihre kleinen Finger, deren Nägel mit abgeblättertem hellrotem Nagellack verziert waren, und strich ihm über die Wange.
»Du bist älter als mein Opa«, sagte das Mädchen, und die Mutter sah erneut von ihrer Illustrierten auf, gemahnte das Mädchen zur Ruhe und entschuldigte sich.
»Und wie alt ist dein Opa?«, fragte Johan.
»Er ist vierundachtzig«, sagte sie, »und ganz glasklar im Kopf. Bist du das auch?«
»Was denn?«, fragte Johan.
»Glasklar im Kopf?«
»Ja, natürlich bin ich das«, sagte Johan etwas lauter als nötig, »auÃerdem bin ich erst neunundsechzig. Ich bin also fünfzehn Jahre jünger als dein Opa!«
Er merkte selbst, dass er überreagierte, aber er saà schlieÃlich da
Weitere Kostenlose Bücher