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Gnade

Gnade

Titel: Gnade Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Linn Ullmann
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schwedischen Kollegen dazu gebracht, ein Rezept für Augentropfen auszustellen. Jetzt saßen sie jeder in seinem Sessel und Johan hatte sich Mais Taschenspiegel ausgeliehen, um die Entzündung zu untersuchen. Er sagte: »Glaubst du, es ist etwas anderes als ein gewöhnliches Gerstenkorn?«
    Mai saß über ein Buch gebeugt. Sie blickte auf.
    Â»Nein«, sagte sie.
    Johan kniff das Auge zusammen.
    Â»Die Tropfen helfen nicht, Mai.«
    Â»Es dauert wohl einen Tag oder zwei.«
    Â»Aber es brennt noch mehr als heute Morgen.«
    Â»Es ist ein gewöhnliches Gerstenkorn, Johan.« Johan öffnete das Auge, spürte, wie es klopfte.

    Â»Du glaubst nicht, dass es etwas ... Gefährliches ist?«
    Mai seufzte.
    Â»Nein. Du hast ein Gerstenkorn am Auge.«
    Johan lachte ein wenig.
    Â»Seit meiner Kindheit habe ich Angst davor, zu erblinden. Ich will nichts dramatisieren, Mai. Ich weiß, dass du der Meinung bist, ich würde die Dinge ab und zu dramatisieren. Aber ich habe immer Angst davor gehabt, zu erblinden, und ich habe nicht den Eindruck, dass es sich wie ein gewöhnliches Gerstenkorn am Auge anfühlt. Es ist etwas Schlimmeres. Es ist ganz deutlich etwas Schlimmeres.«
    Mai warf das Buch auf den Boden, sah Johan an.
    Â»Du hast ein Gerstenkorn am Auge, Johan. Du wirst nicht erblinden. Ich kann nicht glauben, dass du ...« Sie führte den Satz nicht zu Ende.
    Â»Du kannst nicht glauben, dass ich ...«, flüsterte Johan. »Jetzt, wo ich ohnehin ...«
    Auch er führte den Satz nicht zu Ende.
    Am nächsten Morgen war die Entzündung am rechten Auge so gut wie verschwunden.
    Â 
    Als sie ein paar Tage später beim Frühstück saßen, sagte Johan plötzlich, dass er der Meinung sei, sie sollten sich einen Hund anschaffen. Sie hatten früher einmal einen Hund gehabt, und jetzt wollte er wieder einen haben. Es war von seiner Seite nicht durchdacht. Es war nicht einmal ernst gemeint. Es war ein
plötzlicher Einfall gewesen. Die Sehnsucht nach einer kalten, nassen Hundeschnauze an seiner eigenen Nasenspitze, dem Duft von Hundepfoten, dem warmen, lebendigen Hundekörper an seinem eigenen unruhigen Körper. Das alles veranlasste ihn zu sagen: »Ich finde, wir sollten uns wieder einen Hund anschaffen.« Mai legte das Buch, in dem sie gerade las, beiseite und sah auf ihren Frühstücksteller, sie stocherte ein wenig in einer Tomate herum. Sie sagte nichts, holte aber tief Luft, einmal, zweimal. Und diese kurze Unterbrechung in der Unterhaltung, diese winzig kleine Pause, war nicht misszuverstehen. Johan wusste genau, was Mai dachte. Sie dachte: Ich will mich nicht allein um einen Hund kümmern müssen.
    Â»Vergiss es«, sagte Johan. »Es war unbedacht von mir. Das Letzte, was du jetzt brauchst, ist ein Hund, um den du dich kümmern musst.«
    Mai sah ihn an und lächelte. »Und was solltest du mit einem Hund?«, fuhr er fort. »Du gehst ja nicht einmal gerne spazieren.«
    Sie sah ihn unverwandt an.
    Â»Du hast ja immer noch mich«, sagte Johan. »Wuff, wuff.«
    Â»Johan, bitte ... Vielleicht, wenn es dir wieder besser geht.«
    Â»Wuff! Wuff!«
    Â»Johan. Bitte lass das. Wenn es dir wieder besser geht.«

    Â»Mir wird es nicht mehr besser gehen, Mai. Verflucht noch mal! Sieh mich an! Sieh mich an! Mir wird es nicht mehr besser gehen.«
    Â 
    Johan musste daran denken, wie Mai vierzig wurde. Ihre Haare waren immer noch hellblond, und ab und zu wurde sie für seine Tochter gehalten. Zum Geburtstag erhielt sie ein Kruzifix, das sie sich gewünscht hatte, und einen Welpen. Eigentlich war es Johan gewesen, der sich den Welpen gewünscht hatte. Sein ganzes Leben lang hatte er sich einen Welpen gewünscht, und jetzt schenkte er Mai einen zum Geburtstag.
    Der Welpe war ein albinoweißes Labradorweibchen und hörte auf den Namen Charley. Obwohl es eine Hündin war, wollte Johan sie Charley nennen. Und der Hund hörte auf den Namen Charley besser als auf andere Namen, die sie ausprobiert hatten, zum Beispiel Klara oder Kira oder Carla.
    Charley war einer dieser Hunde, die alt wirkten, sobald sie die Welpenzeit hinter sich hatten. Sie war langsam und schwer und hinkte ein wenig, aufgrund eines angeborenen Hüftschadens, der entdeckt wurde, als sie achtzehn Monate alt war. Und wenn sie nicht zusammen mit Johan durch den Wald trotteteniemals schnell genug, um mit anderen Hunden zu

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