Gnade
rennen oder zu spielen â, lag sie schlafend in ihrem Korb im Flur mit der tulpenroten Schnauze zwischen den Pfoten.
Charley war treulos. Ihr Zutrauen kannte keine Grenzen. Alle, die in ihre Nähe kamen, wurden mit Hingabe, Liebe und Dankbarkeit empfangen. Und eines Tages geschah Folgendes:
Charley und Johan drehten eine Runde um den Sognsvann. Auf halber Strecke stieÃen sie auf ein junges Pärchen, das am Ufer saà und grillte. Die junge Frau trug ein geblümtes, schulterfreies Kleid und der junge Mann, der sehr kräftig war und sich sicher gern zur Schau stellte, war von der Taille aufwärts nackt. Als Charley auf ihn zuhinkte, angelockt von der Grillwurst, die zwischen seinen Fingern baumelte, stand der junge Mann auf und versetzte Charley einen Tritt in die Seite. Charley stöhnte, wie ein Hund stöhnt, wenn er Schmerzen hat, und brach zusammen.
Johan stand ein Stück abseits. Er sah alles. Den Hund, der getreten wurde, stöhnte und versuchte, wieder auf die Beine zu kommen, den jungen Muskelprotz mit der Wurst, die zwischen seinen Fingern baumelte, und mit einem Grinsen um den Mund. Und Johan wusste, dass er etwas tun müsste. In diesem Augenblick. Jetzt hätte Johan Sletten der Welt zeigen können, was er konnte. Jetzt hätte er auf den Muskelprotz und seine Freundin zugehen und seinen wehrlosen alten Hund verteidigen müssen. Er hätte auf sie zugehen, die Wurst aus den Wurstfingern des Muskelprotzes reiÃen und ihn zusammenschlagen müssen.
Verflucht! Auf ihn zugehen und seinen Hund verteidigen, der auf dem Boden lag und stöhnte. Aber Johan rührte sich nicht. Er ging vielmehr zwei Schritte zurück und versteckte sich hinter einem Baum. Johan war kein Muskelprotz. Mai verglich seinen Körper mit einer Bohnenstange. Und man geht nicht auf einen Muskelprotz los, wenn man selbst eine Bohnenstange ist. Und deshalb ging er zwei Schritte zurück, versteckte sich hinter einem Baum und rief mit brüchiger Stimme nach seinem Hund. Leise, leise. Damit ihn niemand hörte, am wenigsten der Muskelprotz, der sich mittlerweile von Charley, die auf dem Boden lag, abgewandt hatte und zu seiner Freundin und den Würsten zurückgekehrt war. Johan rief leise nach seinem Hund, um nicht Anstoà und Aufsehen zu erregen. Leise! Gerade laut genug, damit ein alter Hund die Stimme seines Herrchens hören, aufstehen, sich davonschleichen und ihn finden konnte.
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Es war Charley â die gute alte Charley mit dem ängstlichen, vertrauensvollen Herzen â, an die er dachte, als er Mai fragte, ob sie sich nicht einen Hund anschaffen sollten. Mai hatte nein gesagt. Das Frühstück war dahin. Die gute Värmlandstimmung war gebrochen. Johan hatte sich vom Frühstückstisch erhoben und war in den Garten gegangen. Später ging er ins Bad und schloss die Tür. Dann stellte er sich vor den
alten Spiegel über dem Waschbecken und studierte eingehend sein Gesicht.
Er hatte dieses Badezimmer eigenhändig renoviert. Blaue Badezimmertapete. Blauen FuÃboden. Das Badezimmerfenster zum Wald und See hin stand offen. Die Meteorologen hatten schönes Wetter vorhergesagt, stattdessen hatten sie Wind, etwas Regen und eine Sonne bekommen, auf die man sich nicht verlassen konnte, eine skandinavische Sommersonne, die nicht wärmte, die jederzeit hinter einer Wolke verschwinden konnte und es auch tat. Johan fühlte sich schon am frühen Morgen schlecht. Er nahm das unbeständige Wetter persönlich â es war ein Zeichen. Alles war Zeichen. Das Wetter war ein Zeichen. Schmerzen oder das Fehlen von Schmerz waren ein Zeichen. Die Bücher, die er kaufte oder geschenkt bekam, und die Bücher, die er las, waren voller Zeichen. Ein Gedichtband von Dylan Thomas, ein Geschenk seines alten Freundes Geir, war ein Zeichen. Johan sagte: Ich kann es bekämpfen. Das soll es bedeuten. Ich kann es bekämpfen. Mai, hörst du mich. Wüte! Wüte! Ich gehe nicht so leicht in diese Nacht. Ich will nicht sterben. Bald würde Mai an die Badezimmertür klopfen, und wenn er nicht antwortete, würde sie vorsichtig die Tür öffnen und ihn vor dem Spiegel sehen. Sie würde sich hinter ihn stellen, vielleicht die Arme um ihn legen. Und dann würden sie zusammen dastehen. Wange an Wange.
Mais Gesicht war ein Zeichen. Er pflegte ihr Gesicht forschend, fast misstrauisch zu studieren â in der gleichen Art, wie Fluggäste das
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