Gnade
Badezimmerboden lag, wie ein jämmerlicher dürrer Ast. Und wer sollte ihn dann retten?
Als Junge konkurrierten Johan und seine Kameraden darum, wer am längsten die Luft anhalten konnte. Unter Wasser die Luft anhalten, in Eisenbahntunneln die Luft anhalten, die Luft anhalten, bis jemand bis fünfzig oder siebzig oder gar hundert gezählt hatte. Und als Johans Sohn Andreas zehn Jahre alt war, fand ihn Johan in einem Kleiderschrank mit einer Plastiktüte über dem Kopf. Johan riss die Plastiktüte herunter und ohrfeigte den Jungen â nicht weil er ein Mann war, der gerne schlug, sondern weil er Angst hatte. »Warum hast du das getan, Andreas?«
Der Junge zuckte nur mit den Schultern und ging weg. Einmal, viele Jahrzehnte später, fragte er Mai: »Warum wirkt der Erstickungstod auf Kinder so verlockend?«
Mai dachte kurz nach, legte ihm dann einen Finger auf die Kehle und drückte zu, drückte noch mehr zu, bis er sie wegschob.
Er atmete aus, betrachtete sein Gesicht im Spiegel, trat einen Schritt zurück, musterte sich, die blassen Hände, die langen dünnen Finger, die Nägel, die seit
geraumer Zeit nicht mehr geschnitten worden waren (er musste unbedingt daran denken, es gleich anschlieÃend nachzuholen!), den weiÃen Hängebauch, der einem kleinen weiÃen Kinderrucksack glich, die dürren Beine, die immer schon dürr gewesen waren und die Mai dazu inspiriert hatten, ihn mit einer Bohnenstange zu vergleichen. »ScheuÃlicher Kadaver«, sagte Johan laut zu sich. »ScheiÃkadaver, verfluchter«, sagte er und war überrascht darüber, dass er das Wort »Scheië verwendet hatte. Er als alter, gebildeter Mann! Er trat näher an den Spiegel heran, untersuchte das Eitergeschwür auf der linken Wange, das heute feuerrot war und das ihm, wie er sich einbildete, zulächelte.
»ScheiÃe! ScheiÃe!«
Das Geschwür lachte immer noch. Johan lachte zurück.
»ScheiÃe! Ficken! Möse! Pimmel!«
Er hatte laut gesprochen, denn plötzlich hörte er Mais Stimme aus der Küche:
»Johan? Ist alles in Ordnung mit dir?«
Er murmelte eine Antwort.
Die Stimme aus der Küche: »Ich war einen Moment drauÃen ...«
Er unterbrach sie.
»Alles in Ordnung, Mai. Ich schneide mir die Nägel.« Er fuchtelte mit den Händen vor dem Spiegel herum. »Schneide mir die Nägel, schneide mir die Nägel!«
Noch immer konnte er an seinen Fingern ihr Geschlecht riechen. Seinen Fingern, die sie vorsichtig, zärtlich und bestimmt in sich gesteckt hatte, als sie sich am Morgen geliebt hatten.
Der Tod dürfte streng genommen nichts an ihm auszusetzen haben, dachte Johan. Er hatte seine Vorkehrungen getroffen, war Vereinbarungen eingegangen, hatte seine Gebete aufgesagt. Andere starben, Johan nicht. Aber so etwas hatte er nie zu sagen gewagt, geschweige denn zu denken. Und gerade deshalb ... Er rauchte nicht, er trank nicht, er fuhr nicht zu schnell, er prahlte nicht. Er war keiner von denen, die bei der Beerdigung anderer Erleichterung verspürten, und er war keiner von denen, die sagten: »Mir passiert das nicht.« Er wusste, dass solche Aussprüche einen Mann gerade dann treffen konnten, wenn er am wenigsten darauf gefasst war. Der Ãbermut. Er achtete darauf, nicht den Eindruck von Ãbermut zu erwecken  â er wollte nicht provozieren. In seiner Beziehung zum Tod, einer Beziehung, die er nach und nach als eine Art Freundschaft betrachtet hatte â nicht zwischen Gleichwertigen, nein, keineswegs, aber dennoch eine Freundschaft â, war er demütig gewesen, nahezu unterwürfig. Ich weiÃ, dass es auch mir passieren kann, ich weiÃ, dass du gröÃer bist als ich, aber ich benehme mich, ich benehme mich, sieh mich an, ich benehme mich, und ich bin über alle MaÃen dankbar dafür, dass du mich in Ruhe lässt.
Als Johans Freund Ole Torjussen aus New York nach Norwegen zurückkehrte, nachdem er von seiner braunäugigen jungen Geliebten vor die Tür gesetzt worden war, wurde ihm nach nicht allzu viel Zwist von seiner Frau verziehen. Vier Jahre später erkrankte er und starb.
»Das ist die Strafe dafür, dass ich geglaubt habe, ich könnte glücklich sein«, flüsterte Ole Torjussen Johan zu. »Der Ãbermut hat mich zu Fall gebracht.«
»Unsinn«, antwortete Johan, doch der Gedanke war ihm natürlich auch schon gekommen,
Weitere Kostenlose Bücher