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Gnade

Gnade

Titel: Gnade Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Linn Ullmann
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Gesicht der Stewardess studieren, wenn das Flugzeug geschüttelt wird und das Licht in der Kabine ausgeht. Stürzen wir jetzt ab? Ist sie unruhig? Ist es bald vorbei?
    Alles war Zeichen, an die Krankheit geknüpft. Johan sah sich um und fragte die Sonne, das Gras, den Himmel, die Bücher und Mai: Werde ich das hier überleben, werde ich sterben? Gib mir ein Zeichen! Erzähle! Und es war wie damals, als Mai den Fötus in ihrem Bauch verlor, entfernen ließ oder umbrachte – Johan konnte das richtige Wort nicht finden, und es war eins der Dinge, über die sie nie sprachen, nie! –, in dem Moment hatte er gedacht, der Wetterumschwung sei ein Zeichen. Er erinnerte sich ganz deutlich. Es war sonnig gewesen, und dann war Wind aufgekommen und es hatte angefangen zu regnen, und Mai hatte ihm gesagt, dass sie schwanger sei, aber abtreiben wolle. Er erinnerte sich an den Wetterumschwung. Er erinnerte sich an Mais Gesicht, als sie ihm erzählte, dass es ein Mädchen gewesen sei. Und er erinnerte sich an das Buch, das er in der Buchhandlung gefunden hatte, mit Bildern des Fötus in verschiedenen Entwicklungsstadien, und an das Herz, das achtundzwanzig Liter Blut am Tag durch den Körper pumpte.
    Aber es würde eine Zeit auf diese folgen, in der Johans
Krankheit schlimmer werden würde, ebenso der Schmerz, und wo die Zeichen aufhören würden, wo die Zeichen nicht länger Zeichen wären, sondern zufällige Ereignisse. So wie Johan selbst letztendlich ein völlig zufälliges Ereignis war. Es würde eine Zeit kommen, in der Johan einsah, dass die Welt ihm nichts erzählen wollte, denn der Körper war Fleisch, und Fleisch verdarb, dass die Schmerzen ihm nichts zu sagen versuchten. Alles war einfach nur da. Es gab keine Zeichen. Er stand nicht in geheimer Verbindung mit der Welt und die Welt stand nicht in geheimer Verbindung mit ihm. Sonne war Sonne. Regen war Regen. Fleisch war Fleisch. Schmerz war Schmerz. Und es würde eine Zeit kommen, in der Johan die Hände falten und flüstern würde: Warum? Und die Antwort wäre einfach: Darum!
    Aber jetzt! Jetzt stand er vor dem Spiegel und hoffte, dass etwas geschehen würde, hoffte auf ein Zeichen, hoffte darauf, dass dieses Unwesen, das sich in seinem Körper eingenistet hatte und sein Leben überschattete, langen, unveränderlichen Tagen mit Sonne weichen würde. Mein ... Leben, dachte er. Ihm fiel keine bessere Formulierung ein. Dort vor dem Spiegel würde er gerne etwas Erhabeneres sagen. Aber ihm fiel keine bessere Formulierung ein als mein ... Leben. Ein kaltes Bier trinken. Lesen. Angeln. Neben Mai liegen, Hand in Hand mit Mai, Mais Haare und ihren Körper riechen. Während er in sich hineinhorchte,
spürte er einen Anflug von Kopfschmerz und Übelkeit. Und die Übelkeit machte ihm Angst. Es fehlte nicht viel, und er fürchtete, bald würde etwas Fremdes, etwas Schreckliches und Undenkbares mit ihm, mit seinem Körper geschehen, etwas, das er nicht vorhersehen und auf das er sich deshalb nicht vorbereiten konnte, das er nicht unter Kontrolle bekommen würde. Krämpfe. Blutstürze. Atembeschwerden.
    Stunden entfernt zu sein von einem großen, modernen, erleuchteten Krankenhaus beunruhigte ihn. Er hatte sich darauf gefreut wegzufahren, aber »weg« war, so wie er es jetzt sah, nur mehr ein gefährlicher Ort. Er wollte nicht »weg« sein. Er wollte dort sein, wo es technisch möglich war, sein Leben zu retten. An einem Ort, an dem er nicht einfach ohne Weiteres sterben konnte, mit den Bäumen, dem Wald, dem Gras und dem stillen See als Zeugen. Wer sollte ihn retten, wenn er jetzt plötzlich umfiele? Mai? Die ihm nur ungern Valium gab, wenn er über Unruhe klagte. Zwar war sie Ärztin, aber ohne Hilfsmittel und Medizin, ohne das Wissen von Spezialisten. Und Johans Zustand verlangte nach den allerbesten Spezialisten. Er holte tief Luft. Mein Zustand verlangt nach den allerbesten Spezialisten. Er starrte auf das magere Gesicht im Spiegel, versuchte seinen Blick einzufangen, hielt die Luft an. Die Übelkeit fühlte sich jetzt noch schlimmer an, als hätte ihm jemand ein Holzstöckchen
in den Hals gesteckt und sei dann gegangen. Oder waren die Kopfschmerzen schlimmer? Er hielt immer noch die Luft an, wollte sich nicht übergeben, denn dann würde er spucken und spucken, und es würde kein Ende nehmen, bevor er nicht erschöpft auf dem

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