Gnade
drauÃen, die ihre Hunde ausführten, und Menschen wie er selbst, die unterwegs waren, um Frühstück und die Zeitung zu kaufen.
Aber der Junge fragte niemand anderen nach dem Weg, er fragte Ole Torjussen. Und Ole Torjussen blieb stehen und half ihm weiter. Er erklärte ihm den Weg zur nächsten Subway-Station, er erklärte dem Touristen, wo er umsteigen müsse, um schneller ans Ziel zu gelangen. Ole Torjussen war ein Wegweiser in der Weltmetropole New York. Ein trivialer kleiner Vorfall, schon vergessen, als er sich umdrehte, um mit den Zeitungen unter dem Arm und dem Kaffee und dem Brot in einer Tüte in die Wohnung in der 73. StraÃe zurückzukehren. Vergessen, wäre nicht das eine geblieben. Das Glücksgefühl. Das Gefühl, die Welt erobert zu haben.
Das war die Wahrheit.
Er war Ole Torjussen in New York. Er war ein Wegweiser. Und so war es immer gewesen.
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Nach mehreren Wochen im Krankenhaus war die Stationsärztin der Meinung, dass Johan entlassen werden könne. Meyer hieà sie und kannte Mai flüchtig von früher. Dr. Meyer erinnerte ihn an eine Balletttänzerin.
Wie sie sich auch bewegte, es sah aus, als würde sie tanzen. Sie sprach mit Armen und Händen, mit dem ganzen Körper. AuÃerdem war sie hübsch, flachbusig und unter dem Arztkittel nur spärlich bekleidet.
Sie pflegte in sein Zimmer zu kommen und sich auf sein Bett zu setzen. Sie nahm sich immer Zeit. Und eines Tages geschah Folgendes:
Dr. Meyer erhob sich vom Bett und bewegte sich zum Fenster. Er hörte Klavierklänge. Hörte sie sie auch? Er wollte sie gerade fragen ... Hörte sie? War es Tschaikowski? ... War es etwas aus Giselle ? ... Aber es gelang ihm nicht, den Mund zu öffnen, die Augen von ihr abzuwenden, wie sie im Licht des Fensters stand. Und plötzlich stellte sie sich auf die Zehenspitzen und verneigte sich ganz tief. Und ihr Körper formte einen Bogen. Es war eine schöne, vollkommene Bewegung. Johan verstand nicht ganz, wovon er Zeuge geworden war. Aber als sie fertig war, bedankte er sich bei ihr.
Sie setzte sich wieder auf die Bettkante.
»Liegt es daran, dass ich Morphium nehme, wenn ich ständig glaube, Sie würden tanzen«, fragte er. »Ist es etwas, das ich mir einbilde?«
»Nein«, sagte sie und legte sein Kopfkissen zurecht. »Es ist nichts, was Sie sich einbilden.«
Und jetzt machte Dr. Meyer eine Armbewegung, die bedeutete:
»An der Zeit, von hier wegzugehen.«
Sie lächelte.
»Jedenfalls für eine gewisse Zeit.«
Ihm fielen die Worte »eine gewisse Zeit« auf. Das Leben dort drauÃen unter Gesunden war nicht länger sein Leben. Aber es sollte ihm gestattet sein, ein letztes Mal unter ihnen zu weilen. Die Schmerzen hatten etwas nachgelassen, und Johan Slettens Körper hatte positiv auf die Behandlung angesprochen.
»Aber«, sagte Dr. Meyer, die niemals aussah, als wolle sie tanzen, wenn Mai zugegen war, »zögern Sie nicht, mich anzurufen, falls etwas geschehen sollte.«
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Mai führte ihren schmächtigen Mann aus dem Krankenhaus ins Auto und sie fuhren sogleich in ihr Ferienhaus nach Värmland. Es lag einsam an einem See, kurz hinter der norwegischen Grenze, mitten im Wald.
Es war ein friedlicher Ort.
Johan schlief die erste Nacht durch, und am ersten Morgen liebte er seine Frau. Johans abgemagerter Körper schlang sich um ihren Körper, bis sie seinen weichen Penis vorsichtig in sich einführte und leise stöhnte.
Sogar jetzt, in meinem halbtoten Zustand, kann sie mich genieÃen, dachte er verwundert.
AnschlieÃend versorgte Mai das Eitergeschwür, presste die Flüssigkeit heraus und küsste vorsichtig sein Gesicht.
Er würde sich so gerne über diese Zeit freuen. Er hatte keine groÃen Schmerzen. Es kam ihm vor, als hätte er es geschafft, sich vor der ganzen Krankheit davonzustehlen. Aber das sagte er nicht laut, er sagte nicht: Ich habe mich vor der Krankheit davongestohlen. Würde er es laut sagen, würde das Unwesen kommen und sich rächen, das wusste er. Es war am besten, leise aufzutreten und die Zeit ein wenig zu genieÃen. Nicht zu sehr, aber ein wenig. Aber auch schon ein wenig zu genieÃen, war schwierig, denn Johan war an seinem ersten Morgen in Värmland mit einem Gerstenkorn am rechten Auge aufgewacht. Das Auge brannte und juckte und tränte, auÃerdem war das Lid geschwollen. Mai hatte einen
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