Gnade
und wartete darauf, vom Arzt hereingerufen
zu werden, und der Arzt hatte ihn gebeten, sofort zu kommen, was nichts Gutes verhieÃ, und dann erdreistete sich dieser kleine Zottelkopf, ihm zu erzählen, er sähe älter aus als ihr idiotischer Opa. Johan fühlte sich nicht wohl, zum einen wegen der Freimütigkeit des Mädchens, zum anderen wegen der wiederholten Entschuldigungen der Mutter. Es war ihm wichtig, zu präzisieren, dass er nicht so alt war wie der Opa, und gleichzeitig zu zeigen, dass er die ulkigen Aussprüche des Kindes mit Humor nahm. Er war keiner von denen, die nicht über sich oder ein lustiges kleines Kind lachen konnten.
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Und am gleichen Abend saà er im Bett und wartete darauf, dass Mai mit dem Bürsten ihrer Haare fertig wurde. Er suchte nach Worten. Wusste nicht, wie er es formulieren sollte. Er dachte: Sie wird mir helfen. Ich bin krank, und sie wird mir helfen.
Mein Leben ist noch nie ein Ausbund an Würde gewesen.
»Was ist, Johan?«
Mai drehte sich zu ihm. Ihr Gesicht war blass. Sie hatte Angst.
»Was ist? Was ist es, was du mir nicht sagen willst?«
»Mai, es hat gestreut. Es ist ernst, glaube ich.«
So. Jetzt hatte er es gesagt. Mai holte tief Luft.
»Was hat der Arzt gesagt?«
»Er roch nach SchweiÃ.«
»Johan!« Ihre Stimme war jetzt wütend. »Was hat der Arzt gesagt?«
»Er hat gesagt, es sei alarmierend.«
Mai fing an zu weinen. Und dieses Mal war es keine Schauspielerei. Sie legte die Bürste auf den Tisch vor dem Spiegel, kroch zu ihm ins Bett und ringelte sich zusammen. Johan strich ihr über das Haar.
»Du musst mir helfen, wenn es notwendig wird«, sagte er.
Mai sah zu ihm auf. Die Augen, die Nase, die Wangen waren rot gefleckt. Streifen von Tränen und Rotz.
»Was willst du damit sagen?« Ihre Stimme versagte.
»Klar werde ich dir helfen.«
Johan strich ihr immer noch über das Haar. Er sagte: »Ich will selbst bestimmen, wann es zu Ende ist. Ich will noch nicht sterben. Ich will leben, bis ich hundert bin, solange ich mit dir zusammen sein kann. Aber ich bitte dich, mir zu helfen, wenn ich sage, dass ich sterben will.«
Mai wurde ganz still, starrte Johan an.
Und dann stand sie auf und schlug ihm ins Gesicht.
Ihre flache Hand klatschte auf seine linke Wange.
Johan packte das dünne Handgelenk und flocht seine Finger in ihre.
Sie fing wieder an zu weinen.
»Nicht das!«, flüsterte sie. »Nicht das. Bitte mich nicht um das. Ich traue mich nicht, dir dabei zu helfen.«
Nach einer langen Stille, die keiner von ihnen zu unterbrechen
wagte, senkte Johan den Kopf. Und dann sagte er: »Mein Leben ist nie ein Ausbund an Würde gewesen, Mai.«
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Später sollte dort, wo Mai ihn geschlagen hatte, ein Eitergeschwür entstehen.
Es existierte natürlich keinerlei medizinischer Zusammenhang zwischen diesen beiden Dingen, Mais Schlag und dem Geschwür in seinem Gesicht, aber Johan dachte an das Geschwür als etwas, das sie gemeinsam erschaffen hatten. Eine Begegnung zwischen ihrer Hand und seiner Wange hatte Früchte getragen, und Johan hatte ein Geschwür zur Welt gebracht. Sein Gesicht hatte sich geöffnet und einem Geschwür Leben eingehaucht. Es war ein hässliches und schmerzendes Geschwür, das Abscheu erregte. Deshalb lag er, solange er es aushielt, auf der Seite, so dass nur die gesunde Hälfte seines Gesichts sichtbar war. Einmal vergaà er es. Als sich eine zufällige Besucherin gerade in sein Zimmer im Krankenhaus verirrt hatte â es war eine Frau, die nach einem Patienten von einer anderen Abteilung suchte â, richtete er sich halb im Bett auf und fragte, ob er ihr helfen könne. Als die Frau Johans Gesicht sah, schlug sie die Hand vor den Mund, sagte etwas, das Entschuldigung lauten konnte, und stürzte hinaus.
Das Geschwür war ein Teil von ihm und verwandelte ihn in seinen eigenen Augen in ein Monster, ein
Monster mit zwei Köpfen, einem groÃen Kopf und einem kleinen Kopf, das andere Menschen erschreckte. Doch das Geschwür war auch ein selbstständiges Wesen. Es lebte sein eigenes Leben. Manchmal war es groÃ, schmerzhaft und auberginefarben, andere Male war es blass und matt. Es veränderte sich von Tag zu Tag und musste wie ein Säugling gepflegt und versorgt werden. Das Geschwür wurde von Flüssigkeit befreit, mit Salben eingerieben und gelegentlich bandagiert.
Einmal
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