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Gnade

Gnade

Titel: Gnade Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Linn Ullmann
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behauptete er, er sei davon aufgewacht, dass das Geschwür geschrien habe.
    Als Mai mit dem Finger darüber strich, sagte Johan zu ihr:
    Â»Du und ich haben es erschaffen. Ich habe es ausgetragen. Mein Gesicht hat sich geöffnet und ihm Leben eingehaucht.«

II
DER SPIEGEL

    D ie Ärzte hatten seinen Körper insgesamt sieben Mal operiert. Sie hatten Röntgenaufnahmen und Ultraschalluntersuchungen gemacht. Sie hatten ihn angeschaut, an ihm herumgedrückt, an ihm herumgeschnitten und ihn wieder zusammengenäht. Sie hatten seinen Fall bei Visiten erörtert und Krankenberichte über ihn geführt. Johan Sletten war kein Fremder. Er gehörte jetzt ihnen. Er gehörte den Grüngekleideten. Vor dem Krankenhaus standen Fahrräder mit Kindersitzen und Einkaufskörben und dicken Schlössern um die Räder. Die Fahrräder zeugten davon, dass es an diesem Ort noch eine ganz andere Bevölkerung gab. Die Gesunden. Diejenigen, die das Krankenhaus jeden Tag verließen, die nach Hause fuhren und die Arbeiten Gesunder verrichteten. Für Johan, der jetzt zu den Kranken zählte, war das Krankenhaus zu einem Zuhause geworden.
    Einmal, als er auf dem Korridor herumlief, hielt ihn eine Frau mittleren Alters an und fragte nach einem bestimmten Oberarzt. Johan wusste, wo dieser Oberarzt zu finden war, und gab der Frau eine sehr genaue und umständliche Beschreibung.
    Die Frau bedankte sich und eilte weiter.
    Er war ein Wegweiser.

    Johan hatte zu Lebzeiten drei Freunde gehabt: Geir Hernes, Odd Karlsen und Ole Torjussen. Er dachte oft an Ole Torjussen, den er von den dreien am liebsten gemocht hatte. Journalist und Kollege. Mittlerweile tot, leider.
    Vor langer Zeit hatte sich Ole Torjussen in eine junge Amerikanerin mit dunkelbraunen Augen verliebt, und in einem berauschenden Anfall von Übermut hatte Ole Torjussen seine Stelle als Feuilletonjournalist bei Norwegens drittgrößter Zeitung aufgegeben, seine Frau und die zwei Kinder verlassen (einen Jungen von zwölf Jahren und ein Mädchen von vierzehn) und war nach New York gegangen, um mit der jungen Frau zusammen zu sein. Das Ganze ging ein halbes Jahr gut, dann wurde Ole Torjussen vor die Tür gesetzt. Er kehrte wieder nach Oslo zurück und versöhnte sich mit seiner Frau, die ihn aus Rücksicht auf die Kinder wieder aufnahm. Er erhielt ein Angebot für eine längere Vertretung bei der Zeitung (seinem alten Arbeitsplatz), sodass er für seinen Unterhalt sorgen konnte. Vier Jahre später starb er an Leukämie.
    Es war nicht viel, was Ole Torjussen seinem Freund Johan Sletten von dem halben Jahr in New York erzählen konnte.
    Er sei glücklich gewesen, erzählte er, bis er vor die Tür gesetzt wurde. Und der glücklichste Tag von allen sei ein früher Sonntagmorgen im Mai gewesen, als die
junge braunäugige Frau ihn losgeschickt hatte, um Brot, Kaffee und Zeitungen zu kaufen.
    Die beiden Liebenden wohnten in einer kleinen Wohnung in der 73. Straße in der Nähe des Central Parks, die junge Frau studierte Literaturwissenschaft an der Universität und lebte von dem Geld, das sie von zu Hause bekam. Ole Torjussen las Bücher, kochte, räumte die Wohnung auf und lebte von dem Geld, das er auf ein heimliches Konto überwiesen hatte, von dem seine Frau nichts wusste.
    Was an diesem glücklichsten Tag von allen in Ole Torjussens Leben geschah, war Folgendes:
    Er kam aus dem Laden an der Ecke, in dem er immer Brot, Kaffee und Zeitungen kaufte. (Ja immer! Das hier war sein neues Leben, und in diesem neuen Leben kaufte er immer Brot, Kaffee und Zeitungen in dem kleinen Laden an der Ecke. Ebenso suchte er sich immer einen Platz in der Nähe von Strawberry Fields im Central Park, wenn er nach draußen ging, um zu lesen; und er aß immer in dem gleichen französischen Lokal in Greenwich Village, wenn er Lust auf Schnecken hatte.)
    Ole Torjussen kam also aus dem Laden an der Ecke und wurde von einem Touristen angehalten, einem jungen Mann mit Schultertasche, T – Shirt und weißen Oberarmen – der junge Mann war fremd in der Stadt, daran bestand kein Zweifel –, und er fragte Ole Torjussen nach dem Weg zur nächsten Subway-Station. Er
hätte viele andere fragen können, erzählte Ole Torjussen, es waren viele Menschen auf der Straße, auch wenn es früh am Sonntagmorgen war. Es waren Menschen auf dem Weg zum Flohmarkt in der 77. Straße, es waren Menschen

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