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Gnade

Gnade

Titel: Gnade Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Linn Ullmann
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würde. Er schlief fast gar nicht mehr, hielt Mai aber nicht mit Klagen wach. Er hatte Kopfschmerzen. Ein drückender Schmerz über dem rechten Auge, als hätte ein wütender kleiner Mann seine Faust in Johans Stirn gerammt. Es war im Übrigen nichts Ungewöhnliches, bei unbeständigem Wetter Kopfschmerzen zu haben. Die Übelkeit war
schlimmer, vielleicht, weil sie einfach anhielt und weil die Decke zu warm war und ein wenig roch und weil er keine gute Schlafstellung finden konnte. Er versuchte, an all die gesunden Zellen in seinem Körper zu denken, die die kranken vernichteten. Er versuchte es vor sich zu sehen, wie ein Psychologe ihm geraten hatte. Aber er sah vielmehr das Gegenteil, Tod Tod Tod Tod über die gesunden Zellen. Er verfluchte den Psychologen und die schlechten Ratschläge aller verdammten Psychologen. Er lag einfach nur da, und es wurde immer schlimmer.
    Â»Alles in Ordnung, Johan?«
    Mais Stimme war sanft. Sie war auch noch nicht eingeschlafen.
    Johan sagte: »Gib mir deine Hand, ich habe Angst.« Mai gab ihm die Hand.
    Â»Hab keine Angst. Ich liebe dich.«
    Seine Stimme versagte.
    Â»Hilfst du mir, wenn ich es nicht länger aushalte? Hilfst du mir dann?«
    Mai wurde still, drückte seine Hand.
    Keiner sagte etwas.
    Lange blieben sie so liegen, auf dem Rücken, nebeneinander, Hand in Hand in der Dunkelheit. Johan schloss die Augen. Er spürte ihre Hand und ihren Atem, ihren Duft und dass sie beinahe schlief, und es war tatsächlich möglich, dass er Schlaf fand. Die Übelkeit ließ nach. Der Kopfschmerz auch. Heute
Nacht war es möglich, dass er Schlaf fand. Es war möglich, dachte Johan und drückte ihre Hand. Schlaf. Frieden. Du bist meine beste Freundin, Mai.
    Und gerade, als ihn der Schlaf in seinen schwarzen Mantel hüllte, setzte sich Mai im Bett auf und machte die Nachttischlampe an.
    Johan schlug die Augen auf.
    Â»Was ist los«, flüsterte er. »Ich dachte, wir würden schlafen.«
    Â»Wir haben nicht geschlafen«, sagte sie. »Ich jedenfalls nicht.«
    Â»Was ist los, Mai?«
    Sie seufzte.
    Â»Das, worum du mich bittest, Johan, ist gegen das Gesetz!«
    Â»Was denn?«
    Johan rieb sich die Augen.
    Â»Das, worum du mich bittest. Das, worum du mich mehrfach gebeten hast.«
    Â»Ach das«, flüsterte er.
    Â»Das ist gegen das Gesetz.«
    Â»Welches verfluchte Gesetz?«, sagte er schnippisch.
    Â»Das norwegische Gesetz. Und alles, wofür der norwegische Ärzteverband steht.«
    Johan war jetzt wach.
    Â»Und dein eigenes Gesetz, Mai?«
    Mai schlug mit beiden Händen auf die Decke, fing seinen Blick auf.

    Â»Mein eigenes Gesetz ist hier nicht relevant. Ist dir klar, dass du mich darum bittest, eine kriminelle Handlung zu begehen? Ist dir das klar?«
    Johan traten die Tränen in die Augen. Darauf war er nicht gefasst gewesen.
    Â»Wir müssen wohl in die Niederlande fahren, du und ich«, sagte er leise, »oder nach Belgien. Wo dies keine kriminelle Handlung ist. Und dann werden wir dort im Hotel sitzen und warten, bis der Kadaver so weit verfault ist, dass du dich im Einvernehmen mit dem Gesetz darauf einlassen kannst ... denn das ist wichtig für dich, oder? Mir im Einvernehmen mit dem Gesetz eine Spritze zu verabreichen.« Johan holte tief Luft.
    Beide schwiegen. Dann sagte er, leise jetzt:
    Â»Ich dachte, es wären andere Gründe ... Ich dachte, du würdest es nicht tun wollen, weil ... Ich dachte, du hättest persönliche Gründe. Ich habe nicht an das Juristische gedacht. Glaub mir. Ich habe daran als an eine persönliche Handlung gedacht, Mai, eine Abmachung zwischen zwei alten Freunden. Eine barmherzige Handlung, mehr nicht.«
    Â»Ja«, sagte Mai.
    Â»Du bist diejenige gewesen, die mit Charley zum Tierarzt ging, damals hast du nicht aufbegehrt.«
    Â»Nein.«
    Â»Wuff, wuff«, machte er.
    Sie lächelte.
    Â»Aber wen kümmert’s?«, sagte Johan, als wollte er
das Gespräch beenden. »Vielleicht überlebe ich das Ganze. Das ist es, was ich will, weißt du?«
    Mai hörte nicht zu, sie war jetzt woanders, in Gedanken versunken. Er saß neben ihr im Bett, berührte ihren Arm, aber sie beachtete ihn nicht.
    Â»Hallo Mai?«, flüsterte er. »Wo bist du? Komm zurück.«
    Plötzlich ergriff sie seine Hand.
    Â»Willst du wissen, warum das so schwierig für mich ist, Johan? Willst du wissen, was ich

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