Gnade
meine?«
»Ich dachte, wir würden schlafen«, sagte er.
»Ich werde dir sagen, was ich meine«, sagte Mai. Ihre Augen waren feucht. »Ich bin der Meinung, dass es ungeheuerlich ist, wenn man einen Menschen dazu zwingt, gegen seinen Willen zu leben. Ich bin der Meinung, es ist ungeheuerlich, dass Sterbenden, die groÃe Schmerzen haben, nicht geholfen werden darf zu sterben, wenn sie es selbst wünschen, wenn sie darum bitten, meine ich. Du sprichst von Würde. Es gibt keine Würde, Johan. Ein sterbender Mensch, ob alt oder krank oder beides, wird infantilisiert â zuerst von der Natur, dann vom Gesundheitswesen. Hältst du das für Achtung vor dem Leben? Ich weiÃ, dass du das nicht denkst. Und ich will dich so nicht sehen. Ich will nicht. Das ist gegen alles, was gut und schön und lebendig ist.«
Johan sah zu Boden.
»Ja«, sagte er.
»Du bittest mich, dir zu helfen, und ich will dir helfen, Johan. Ich will es. Du bist mein Mann, und ich will dir alles geben, auch das. Aber ich habe Angst. Ich habe Angst, dass mich der Mut verlässt, weil du es bist. Weil du mein bester Freund bist. Weil ich dich nicht sterben sehen will, auch wenn du nur noch leidest. Und ich habe Angst vor den Konsequenzen ... Es würde nur missverstanden und verdreht werden.«
Sie geht zu weit, dachte er. Sie geht zu weit. Das will ich nicht. So nicht.
Er sagte: »Aber es ist ja gar nicht sicher, Mai. Ich fühle mich im Grunde ganz gut. Es geht mir wieder besser, glaube ich.«
Mai nahm seine Hand in beide Hände. Sie kroch dicht an ihn heran und küsste ihn auf den Mund.
»Mein geliebter Johan.«
Johan räusperte sich und sagte: »Ich finde auch nicht, dass wir diese Diskussion zu weit treiben sollten. Ich meine, was ich gesagt habe, ich will nicht so sterben wie mein Vater ... ohne Würde, ohne Menschlichkeit. Aber wir müssen die Diskussion auch nicht zu weit treiben. Ich liege ja neben dir und bin quicklebendig.« Johan stand auf, stellte sich mitten ins Schlafzimmer und begann zu hüpfen. Er hüpfte auf und ab im weiÃen Licht der Nachttischlampen.
»Quicklebendig, siehst du!«
Er wedelte mit den Armen, hüpfte und rief: »Von jetzt an kannst du mich einfach Hüpf-Johan nennen!«
Johan hüpfte. Sein Atem ging schwer, der Brustkorb schnürte sich zusammen, aber er hüpfte. Hüpf-Johan hüpfte, auf und ab hüpfte er. Und jedes Mal, wenn er aufkam, gab der Holzboden ein dumpfes Geräusch von sich. Bumm! Bumm! Bumm!
Mai vergrub ihr Gesicht in den Händen.
»Hör auf, bitte«, flüsterte sie. »Leg dich wieder hin.«
Johan hüpfte weiter. Bumm! Bumm! Jetzt soll seine Frau sehen, wer bis zum Morgengrauen hüpfen kann, dachte er.
»Sieh mich an!«, stöhnte er. »Sieh nur, Mai!«
»Hör auf!«, schrie sie.
»Jetzt sollst du sehen, wer hüpfen kann, bis der Morgen graut und der Hahn kräht«, rief er.
Mai begann zu weinen.
Johan hörte auf.
Er atmete schwer. Er sah sie an. Ihre Ellbogen auf der Decke, ihr Gesicht in den Händen.
Er setzte sich. Strich ihr über das Haar.
»Mai?«
»Warum tust du das?«
»Hüpfen, meinst du?« Seine Stimme klang trotzig.
Er griff nach der Toilettenpapierrolle, die auf dem Nachttisch stand für den Fall, dass er nachts bluten sollte, riss ein langes Stück Papier ab und trocknete sich die Stirn.
Mai sah ihn an.
»Du behauptest, dass du ernsthaft darüber reden
willst, Johan, und so reden wir. Aber dann willst du alles mit einem Scherz beiseite fegen. WeiÃt du was? Du trivialisierst uns, Johan. Du tust, was du kannst, um über das, was uns ereilt hat, was dich und mich ereilt hat, nicht zu sprechen. Du bist krank, Johan. Du wirst nicht wieder gesund werden. Begreifst du, wie weh das tut? Und dass du es selbst nicht einsehen willst. Das tut ebenfalls weh. Wir müssen Pläne machen. Wir müssen Dinge ordnen ...«
Ihre Stimme versagte erneut.
»Ich will kämpfen, Mai.«
Johans Stimme war dünn. Er wischte sich mit dem Papier die Stirn und das Gesicht trocken. Der Schweià lief, sein Atem ging schwer und er spürte wieder die Ãbelkeit, als wollte irgendetwas in seinem Bauch oder Hals nach oben und ins Freie krabbeln, aber er flüsterte, er wolle kämpfen, und dann murmelte er, sie dürfe ihm nicht die Hoffnung nehmen, sie solle seine Hand nehmen und sagen, dass sie bei ihm
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