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Gnade

Gnade

Titel: Gnade Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Linn Ullmann
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das?«
    Â»Ich verspreche es.«
    Sie rückte näher an ihn heran, legte den Arm um ihn und flüsterte:
    Â»Bist du dir sicher, Johan. Ich muss wissen, dass du ganz sicher bist.«
    Â»Ja.«
    Â»Du musst mir sagen, wenn du nicht sicher bist.«
    Â»Ich bin sicher.«
    Johan sah Mai an.
    Er sagte, er sei sicher, und sie weinte. Aber da war noch etwas anderes. Ihr Gesichtsausdruck. Er hatte gelernt, dieses Gesicht zu deuten. Die Trauer über das Kind, das sie damals entfernen ließ. Die unbedeutenden Lügen, die sie erzählte und die er selten überhaupt kommentierte. Die Augenblicke, bevor sie einen Orgasmus hatte – ihr Lachen in dem Moment  –, und ihr Mund, wenn sie schlief, ein wenig geschwollen, ein etwas hässlicher Mund, empfindsam
und nicht ahnend, dass er beobachtet wird. Und jetzt. Ihr Gesicht. Johan sah sie an.
    Sie erwiderte seinen Blick.
    Â»Ich halte die Entscheidung für richtig«, flüsterte sie.
    Â»Kein Mensch, und schon gar nicht du, soll mehr als nötig leiden.«
    Â»Nein«, murmelte er.
    Sie wischte ihre und seine Tränen mit den Fingern weg.
    Â»Und wir haben noch die Zeit, die uns bleibt, Johan. Sie gehört uns«, sagte sie.
    Â»Sie gehört uns«, wiederholte er.
    Sie stand auf. Er sah sie unverwandt an. Sie war so leichtfüßig, Mai. Wie ein kleines Mädchen. Und ihr Gesicht. Mais Gesicht. Johan suchte nach einem Wort. Sie packte ein wenig weiter, ging in die Küche, drehte den Hahn auf. Er hörte fließendes Wasser. Er blieb auf der Bettkante sitzen. Sein Kopf. Er würde am liebsten schreien. AHHHHHHHHHHHHHHHHHH. OHHHHHHHHHHHHH. AHHHHHHHHHH. Vielleicht konnte er hier sitzen bleiben und AHHHHHHHHH und OHHHHHHHH schreien, bis es vorbei war? Ein stechendes weißes Licht! AHHHHHHHHHHH. Noch ein Licht! Er sah seinen Kopf vor sich. Einen abgeschlagenen Kopf. Johans Kopf. Ja, genau. Auf einem Teller. Wer war das noch? Wer schnitt wem den Kopf ab und bekam ihn auf einem Teller serviert? War es Caesars Hut auf dem Teller? Nein, nein, nein. Kein
gewöhnlicher Hammer, sondern ein Vorschlaghammer. Und Mai? Was war mit Mai? Mais Gesicht? Er hatte ihr Gesicht immer deuten können. Doch dieses Mal? In diesem Augenblick? Bevor sie aufgestanden und in die Küche gegangen war, um einen Hahn aufzudrehen. Was war da gewesen? Ein Wort. Es fiel ihm nicht ein. Sie hatte gesagt, dass sie ihm helfen wolle. Er hatte gesagt, dass er sicher sei. Sie hatten sich geeinigt. Und er hatte etwas in ihrem Gesicht gesehen. Als würde etwas endgültig loslassen. Er sah sie vor sich, wie sie am Klavier saß, die wenigen Male, die sie vergaß, dass sie nicht gut genug war. Wie hatte ihr Vater sich ausgedrückt? Sie war nicht begnadet. Die wenigen Male, die sie vergaß, dass sie nicht begnadet war.
    Gnade, dachte Johan und sah Mais Gesicht wieder vor sich.
    Johan flüsterte: Ich habe keinen Glauben. Ich habe keine Hoffnung. Aber ich habe Liebe.
    Erleichterung vielleicht?
    Ja, das war es. Nach diesem Wort hatte er gesucht.
    Es war Erleichterung gewesen, die er in ihrem Gesicht gesehen hatte, als er sagte, er sei sicher.
    Nicht Ruhe, sondern Erleichterung. Die arme kleine Mai.
    Sie hatte ihm versprochen, worum er sie gebeten hatte. Immer wieder hatte er sie angefleht, und zum Schluss hatte sie ja gesagt, und dann hatte er die Erleichterung
in ihrem Gesicht gesehen. Etwas in ihm zerbrach. So hatte er es sich nicht vorgestellt. Er wollte nach ihr rufen, sie schütteln, sie anflehen, sie einfach nur berühren. So habe ich es mir nicht vorgestellt, Mai! Aber er schaffte es nicht. Es kam nichts. Es tat weh. Die Worte wollten nicht nach draußen. Nur die Tränen. Oder nicht einmal die. Nicht einmal die Tränen, nichts als seltsame, fremde, widerliche Laute wie aus einem anderen Mund. Und die Schmerzen im Kopf, wie in einem anderen Kopf. Johan legte sich aufs Bett, zog sich die Decke über das Gesicht und blieb ganz, ganz still liegen. Wie damals, als er noch ein Kind war und darauf wartete, dass die Mutter ihn fand, ihn in die Arme schloss und tröstete, bis es endlich vorbei war.

III
DIE TÜR

    S ein nackter, bläulich weißer Greisenkörper, der in einem grünen Krankenhemd steckte mit nichts darunter. Der Penis, die Hoden, die Pobacken ... alles ist zu sehen. Wie ein zu groß geratenes Kind in einem zu kleinen, vererbten Sonntagskleid, denkt er und zieht an dem Krankenhemd. Das Gehirn voll von dem

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