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Gnade

Gnade

Titel: Gnade Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Linn Ullmann
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spielerisch langsam. Nicht stoßweise und linkisch und hart. Andere Frauen hatten keine Hände. Nur Mai hatte Hände.
    Â 
    Bevor sie an diesem Abend zu Bett gingen, machte Mai den Kamin an. Der Sommerabend kündete bereits vom nahenden Herbst, es ging ein kräftiger Wind und die nächtliche Finsternis kam plötzlich und unerwartet nach Monaten mit langen hellen Abenden. Johan und Mai saßen jeder in einem Sessel, jeder mit einem Buch. Es könnte ein ganz gewöhnlicher Abend sein, dachte Johan, wäre da nicht die Übelkeit, der Klumpen in seiner Speiseröhre, der weder nach
oben noch nach unten wollte. Und das Gespräch mit Mai, das mit dem Wort »aber« geendet hatte.
    Würde sie sagen, dass sie bei ihm bleiben wollte, würde sie diese Worte wiederholen?
    Â»Sag es, Mai!«, flüsterte er.
    Â»Sprich mit mir! Sprich mit mir!«
    Er betrachtete sie, wie sie vor dem Kamin saß, im Schein der Flammen, die Nase im Buch, den Mund halb offen – wie ein kleines Mädchen bei seinem ersten Krimi. Aber Mai war kein kleines Mädchen mehr, oh nein, sie war eine ältere Dame, dachte er vergnügt, auch mit dem kindlichen Zug im Gesicht, der dazu führte, dass Fremde sie jahrelang für jünger gehalten hatten, als sie war. Eine ältere Dame, dachte er, vergänglich auch sie. Ebenso wie die kleinen Mädchen, die glaubten, sie würden niemals sterben. Aber auch durch die Haare kleiner Mädchen werden Regenwürmer kriechen. Er lächelte, betrachtete sie. Es könnte hier zu Ende sein, dachte er. Es könnte ganz einfach hier zu Ende sein. Zwei alte Freunde. Johan und seine Frau. Johan und Mai, jeder in einem Sessel, jeder mit einem Buch, ein Spätsommerabend vor dem Kamin.
    Er betrachtete sie, und sie wusste es nicht. Der glänzende, graue Zopf war am Ende des Tages ganz zerzaust, lose Haare standen in alle Richtungen ab, sie hatte eine runde Lesebrille auf der Nase und rote, heiße Wangen. Er streckte eine Hand aus, um ihr über
die Wange zu streichen, aber er wollte sie nicht stören und zog die Hand wieder zurück.
    Es könnte hier zu Ende sein. Ohne Schmerzen, ohne Schreie und Angst und Demütigungen. Nur dieser eine Augenblick – Johan und Mai und die Flammen im Kamin – und dann eine lange schwarze Nacht.
    Hand in Hand mit der besten Freundin. So könnte es enden.
    Johan schloss die Augen, dachte an eine andere Frau. Dachte an seine Mutter.
    Mutter. Bevor sie starb, kam es gelegentlich vor, dass sie sich in einer Konditorei trafen, heiße Schokolade mit Sahne tranken und Brötchen aßen. Einmal hatte er sie gebeten, von seinem Vater zu erzählen. Meistens unterhielten sie sich über nichts Besonderes. Sie erzählte von dem widerlichen Nachbarn, den Damen im Bridgeclub, den langen, einsamen Besuchen im Glasmagasinet. Aber als er nach dem Vater fragte und sie zu erzählen begann, hielt sie plötzlich inne, wurde ganz still.
    Sie saß ihm genau gegenüber.
    Â»Das kann ich nicht«, flüsterte sie. Die Stimme war dünn. Das kleine, faltige Gesicht wandte sich ihm zu. Ihre Augen waren feucht.
    Â»Du verstehst das nicht ... Jedes Mal, wenn ich versuche, Vater vor mir zu sehen, sehe ich nur die Bilder der letzten Tage. Vater, verschmiert mit ... Vater in tiefster Not, Johan. Und ich kann ihm nicht
helfen. Als hätten sich diese Bilder über die anderen Bilder gelegt, die guten Bilder. Und es gab viele gute Bilder. Dein Vater und ich ... Es war eine gute Ehe. Er war ein guter Mann. Aber ich sitze mit den schlechten Bildern da. Den ekelhaften Bildern. Und ich kann sie nicht wegschieben. Ich kann sie nicht löschen. Ich versuche es. Ich versuche, andere Bilder vor mir zu sehen. Gute Bilder. Aber ich schaffe es nicht. Ich kann mich gegen all das Ekelhafte nicht wehren.«
    Johan hörte plötzlich, wie Mai in ihrem Sessel gähnte, das Buch war ihr in den Schoß gerutscht. Die Flammen im Kamin waren erloschen. Es war an der Zeit, zu Bett zu gehen. Sie unterhielten sich nicht. Verrichteten nur die üblichen Dinge, die Ehepartner jeden Abend verrichten, ohne sich gegenseitig zu stören, ohne sich im Weg zu stehen. Das Bett aufschütteln. Die Zähne putzen, die Badezimmertür schließen, auf die Toilette gehen, die Hände waschen. Sich einen Gutenachtkuss geben. Das Licht löschen.
    So war es immer, aber Johan wusste, dass er diese Nacht keinen Schlaf finden

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