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Gnade

Gnade

Titel: Gnade Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Linn Ullmann
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erstellt, von denen er gelesen oder gehört hatte, Frauen und Männer
mit vergleichbaren Diagnosen, die überlebt hatten. Er konnte einer von ihnen werden. Einer von denen, die überlebten.
    Aber wenn er nicht länger zu kämpfen vermochte, wollte er in Würde sterben. Bevor er in seinem eigenen Dreck gefunden wurde. Bevor er für Mai zu einer Last wurde. Und dies war seine Entscheidung, das musste sie verstehen. Es wäre seine letzte Bitte um Hilfe. Er wollte kämpfen. Oh ja! Er wollte kämpfen. Aber falls und wenn der Kampf nichts mehr bringen sollte, dann wollte er sie darum bitten, dass sie ihm dabei half, ohne allzu große Schmerzen und in Würde zu sterben.
    Johan stand sich im Spiegel von Angesicht zu Angesicht gegenüber.
    Das mit dem Hund hatte den Tag geprägt. Es war nicht einmal so, dass er einen Hund haben wollte. Als Charley im Alter von acht Jahren eingeschläfert wurde, hatte er beschlossen, nie wieder Hundebesitzer zu werden. Es war, wie gesagt, nicht der Wunsch nach einem Hund, der den Tag getrübt hatte, sondern dass ein ganz normales Gespräch zwischen zwei Ehepartnern darüber, ob sie sich einen Hund anschaffen sollten oder nicht, so verflucht existenziell wurde. Eine Frage von Leben und Tod wie alles andere zurzeit. Und zugleich auch nicht. Mai wollte keinen Hund haben, weil sie davon ausging, dass Johan bald seinen Hut nehmen würde (haha, was für ein Ausdruck,
dachte Johan und schnitt seinem Spiegelbild eine Grimasse, seinen Hut nehmen! Ich nehme meinen Hut. Johan Sletten nimmt seinen Hut), und sie wollte nicht allein die Verantwortung für einen Hund haben. Doch das sagte sie nicht. Sie würde nie darüber reden. Alle Gespräche, selbst die idiotischsten, trivialsten Gespräche, handelten davon, dass Johan bald seinen Hut nehmen würde. (Obwohl seinen Hut nehmen eigentlich eher davon handelte, einen Arbeitsplatz zu verlassen, überlegte Johan, und Johan würde mehr tun als das, er würde den Löffel abgeben, das Zeitliche segnen, die Augen zumachen, entschlummern.) Aber darüber reden ... oh nein! Das wollte sie nicht. Und er im Grunde auch nicht. Aber sie machten auch keine Pläne für die Zukunft wie sonst. Mai wollte das nicht. Sie wollte nicht zugeben, dass sie glaubte, er würde sterben, aber sie wollte auch keine Pläne für die Zukunft machen. Sie wollte nicht einmal so tun als ob. Das war nicht Mai.
    Das mit dem Hund hatte Gedanken in Gang gesetzt, und jetzt wollte er mit ihr reden. Er war durch seinen kleinen värmländischen Garten gelaufen, hatte das unbeständige Wetter verflucht (das er persönlich nahm, als ein Zeichen) und überlegt, dass er jetzt die Kontrolle über die Situation übernehmen musste. Eine Stimme, seine eigene, sagte ihm, dass er die Kontrolle übernehmen musste. Ja, so war es. Eine Stimme, ein anderer, tieferer Atemzug in ihm gewissermaßen,
sagte ihm, das es jetzt verflucht noch mal an der Zeit sei, die Kontrolle zu übernehmen! Und genau in dem Moment lugte die Sonne hinter den Wolken hervor und schien auf ihn herab, schien mit einem kleinen Teil ihrer enormen Kraft auf meinen schmächtigen Freund Johan Sletten herab, der überlegte, dass es an der Zeit sei, die Kontrolle über die Situation zu übernehmen.
    Er streckte das Gesicht zum Himmel und ließ sich von der Sonne wärmen.
    Die Zeit war reif.
    Und das ist der Hintergrund für Johans und Mais Gespräch am gleichen Abend. Sie hatten gegessen. Johans Appetit war nicht groß. Von Essen, sogar von gutem Essen, wurde ihm übel. Aber es kam vor, dass er noch ein Glas Wein oder zwei genießen konnte, und das tat er an diesem Abend. Sie saßen am Küchentisch, unter der blauen Küchenlampe. Das Geschwür auf Johans linker Wange leuchtete rot und Mai sagte, eine Spur abwesend:
    Â»Dein Geschwür ist feuerrot, ich werde es behandeln.« Sie stand auf.
    Â»Setz dich hin, Mai!«
    Mai sah ihn an, verwundert. Sie setzte sich.
    Und dann sagte Johan: »Lass mein Gesicht in Ruhe!
    Du und ich, wir müssen miteinander reden.«
    Johan holte tief Luft.
    Â»Das habe ich beschlossen!«

    Beide zuckten bei seinem Tonfall ein wenig zusammen.
    Â»Und wir sollten nicht gestört werden«, fuhr er fort. Johan nahm die Hand hoch und berührte sein Gesicht.
    Â»Sprich nicht über mein Gesicht.«
    Â»Um Gottes willen ...« Mai begann zu lachen.
    Â»Ich habe ...«,

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