Gnade
unterbrach Johan sie. »Ich habe nachgedacht.«
»Aha.«
»Ich will, dass du mir zuhörst, ohne mich zu unterbrechen. Das ist wichtig. Ich brauche deine Hilfe, Mai. Ich brauche deine Hilfe. Ich brauche dich ... mehr denn je.«
»Johan?«
»Ich habe nachgedacht.«
Mai nickte.
»Ich bin krank, aber ich will dagegen ankämpfen. Ich will es. Vielleicht werde ich wieder ganz gesund ... Vielleicht werde ich wieder gesund ... Aber wenn nicht ...«
»Johan«, unterbrach Mai ihn sanft. »Kannst du nicht einen Schritt nach dem anderen tun? Du fühlst dich wieder besser, nicht wahr? Können wir diese Zeit nicht zusammen genieÃen, ohne zu viel darüber nachzudenken?«
»Ich möchte jetzt ein paar Entscheidungen treffen«, flüsterte Johan. »Um dann den Rest meiner Zeit mit
dir zusammenleben zu können, Mai. In Frieden. Ich will nur meinen Frieden haben.«
»Du bekommst keinen Frieden, solange du versuchst, alles, was in Zukunft passieren kann, vorherzusehen«, sagte Mai. »Mir kann morgen ein Dachziegel auf den Kopf fallen und dann heiÃt es adios Mai, ein für alle Mal. Es ist sinnlos, Dinge vorhersehen zu wollen ...«
»Aber so hör mir doch zu«, rief Johan. »Ich sage ja nur, dass ich dagegen ankämpfen will, dass ich leben will. Ich will leben. Ich will nicht sterben. Aber ich will, dass du mir hilfst, falls ... falls die Krankheit zu einer Belastung wird ... « Er suchte nach den richtigen Worten. »Einer Belastung für uns beide.«
Mai sah zu Boden.
»Du bist keine Belastung«, flüsterte sie.
»Aber wenn ich es werde.«
»So denke ich nicht«, sagte sie energisch.
»Ich habe Angst vor den Schmerzen, Mai.«
»Schmerzen kann man lindern. Und ich bin bei dir. Ich bin die ganze Zeit bei dir.«
Johan sah Mai an, dankbar. Dann sagte er: »Ich habe Angst vor der Demütigung. Ich will nicht, dass du mich so siehst ... Ich habe Angst davor, die Kontrolle zu verlieren. Ich will nicht, dass das Letzte, woran du dich erinnerst, der Gestank sein wird. Ich erinnere mich, als mein Vater ...« Er führte den Satz nicht zu Ende.
Mai sah ihn an, holte tief Luft.
»Ich verstehe, was du sagen willst, aber ...«
Sie unterbrach sich selbst.
Mai hatte »aber« gesagt. Er wollte wissen, was nach dem »aber« kam. Er wollte wissen, ob sie die Worte »Ich bin bei dir« noch einmal wiederholen würde. Dass sie, egal worum er sie bitten würde, die Worte »Ich bin bei dir, die ganze Zeit« wiederholen würde. Aber sie sagte nichts mehr. Nicht »Ich bin bei dir« und auch nichts anderes. Nichts sagte sie. Stattdessen fing sie an, den Tisch abzuräumen. Er blieb sitzen und sah ihr zu. Die Haare, die sie zu einem langen, grauen Zopf geflochten hatte, die groÃen Hände mit den kurz geschnittenen, sauberen Fingernägeln, einen schmalen weiÃen Bogen an jeder Nagelspitze. Ein Zeichen der Gesundheit, hatte sie ihm einmal erzählt. Alice, seine erste Frau, hatte brüchige, dünne Nägel gehabt, an denen sie jedes Mal kaute, wenn sie sich vergaÃ. Hin und wieder ging sie in einen Salon, in dem ihre Nägel von einer Dame gepflegt und rosa lackiert wurden. AnschlieÃend kam sie nach Hause, wedelte mit den Händen, ihren winzigen chinesischen Händen, vor Johans Gesicht herum und fragte, ob sie nicht hübsch wären. Er betrachtete seine eigenen ungeschnittenen Fingernägel. Schmale weiÃe Bögen an jeder Nagelspitze, auch bei ihm. Einmal hatte er seine Hand auf Mais Hand gehalten und gesagt, wir haben ganz ähnliche Hände, du und ich, und
sie hatte ihre Hand zurückgezogen und gesagt, es bringe Unglück, die Hände zu vergleichen.
Mai hatte versprochen, bei ihm zu bleiben, die ganze Zeit. Ihm die Hand zu halten, bis es vorbei war. Ihn nicht zu verlassen. Seine Hand in ihrer. Mais Hand war gut, und er wollte, dass ihre Hand das Letzte war, was er in diesem Leben spüren sollte. Dass sie ihn auf die andere Seite führte.
Er hatte an Mais Hände immer als an gute Hände gedacht. Ruhige Hände. Sie, die sonst immer so schnell war, konnte sich plötzlich ganz eng an ihn schmiegen. Es war die Art, wie sie seinen Körper streichelte, die langsame Bewegung ihrer Hände schräg über den Bauch und weiter nach unten, die Art, wie sie seinen Hodensack umschloss, und dass es so langsam ging, so
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