Gnade deiner Seele: Psychothriller (German Edition)
zur Seite und fing laut zu weinen an. Er war so stark, dass sie ihre Arme nicht mehr bewegen konnte.
»Okay«, sagte sie und schnappte zitternd nach Luft, »es tut mir leid.«
Er beäugte sie misstrauisch. Sie versuchte, traurig zu lächeln. Nach einer Weile ließ er ihren linken Arm los, um sich den Schweiß von der Stirn zu wischen.
»Okay, alles klar«, sagte er. »So können wir nicht weitermachen.«
Sie konnte nicht glauben, wie ruhig und vernünftig er klang, so als seien sie ein altes Ehepaar, das sich wegen einer Nichtigkeit gezankt hatte. Er lächelte mitleidsvoll zu ihr herab. Sie spürte eine Welle der Wut und bemerkte im selben Moment, dass sie ihre linke Hand zur Faust geballt und in sein Gesicht gerammt hatte. Der große Diamant traf ihn voll ins Auge. Verzückt stellte sie fest, dass er laut aufheulte und sich vor Schmerzen wand. Sie spürte sein Körpergewicht nicht mehr, sprang auf und griff nach der Pistole. Als sie sich umdrehte, stand er direkt hinter ihr. Er wich zurück, riss beide Hände in die Höhe. Eine breite Blutspur zog sich über sein Gesicht. Sein Auge begann zuzuschwellen. Sie hatte hart zugeschlagen, aber nicht hart genug.
»Paula«, sagte er, »sei vernünftig.«
Ihre kreischende Stimme war kaum zu verstehen.
» Verschwinde von hier !«
Sie bewegte sich rückwärts zur Treppe. Das Baby schrie wie am Spieß. Das Geheul war wie eine Sirene in Paulas Kopf. In Zeitlupe stiegen sie die Treppe hinauf; Paula wich Stufe für Stufe zurück, während er ihr folgte.
»Paula, tu das nicht.« Seine Stimme klang wie eine Warnung. »Was hast du vor, hm?«
Paula holte tief Luft und zwang sich, ruhig zu sprechen. Kein Geschrei mehr. Sie wollte die Kontrolle nicht verlieren. Sie hatte die Pistole, sie war jetzt am Drücker.
»Zwing mich nicht, dich zu erschießen, Kevin«, sagte sie. »Bitte. Ich will das nicht tun. Aber ich würde.«
Sie wusste nicht, wie sie für ihn aussah und wie sie klang, aber er blieb abrupt stehen. Sie würde ihn tatsächlich erschießen; er wusste es. Sie wusste mit der Waffe umzugehen, denn ihr Vater hatte es ihr beigebracht. Sie hielt eine Glock in der Hand, semiautomatisch und durch einfaches Betätigen des Abzugs zu entsichern. Paula wusste, dass im Lauf eine und im Magazin neun Patronen steckten. Sie war eine gute Schützin und zielte auf seine Körpermitte.
Er stand im Türrahmen zum Kinderzimmer, als sie die Kleine auf den Arm nahm. Claire hörte sofort zu weinen auf, klammerte sich an Paula fest, rieb ihren Mund an Paulas Pullover. Paulas Brüste schmerzten, so voll waren sie.
»Wenn du mich jetzt gehen lässt, rufe ich die Bank an, sobald ich in Sicherheit bin. Du wirst Zugriff auf das Konto bekommen. Wenn du mich und die Kinder gehen lässt, überlasse ich dir das Geld.«
Kevin blinzelte langsam. Er dachte nach.
»Meine Mutter verwaltet das Konto treuhänderisch«, sagte Paula. »Wenn du mir etwas antust, bekommt sie das Geld.«
Das war gelogen; es war unmöglich. Paula hatte versucht, es so zu regeln, aber die Bank hatte eine schriftliche Einwilligung von Kevin verlangt. Im Fall des unerwarteten Ablebens ging alles an den Ehegatten. Hoffentlich wusste Kevin das nicht.
Er hob beide Hände und lächelte besänftigend.
»Baby, du übertreibst. Lass uns über alles reden.«
Das Seltsame war, dass sie in jenem Moment beinahe selber geglaubt hatte zu übertreiben, sich wie eine Irre aufzuführen. Er hatte sie mit der Waffe bedroht, sie hatte sich verteidigt, und nun zweifelte sie an ihrem Verstand. So gerissen war er. Oder war sie so schwach? Wer konnte das jetzt noch beurteilen?
Die Taschen waren im Auto. Sie hatte für sich und die Kinder gepackt. Seit Monaten lagen die Sachen im Kofferraum. Buggy, Reisebett, Spielzeug, Kleidung, Windeln, Feuchttücher, sogar an eine Milchpumpe hatte Paula gedacht. Sie ging rückwärts, das Kind auf dem Arm und in der freien Hand die Pistole. Kevin folgte ihr langsam und redete beruhigend auf sie ein.
»Schatz, ich liebe dich. Tu das nicht. Sieh mich an. Ich blute.« Er fing an zu weinen. »Nimm mir die Kinder nicht weg.«
»Ruf nicht im Kindergarten an, und auch nicht bei der Polizei«, sagte sie. »Sobald ich in Sicherheit bin, bekommst du Zugriff auf das Geld.«
In ihr tobte ein Wirbelsturm aus Todesangst und Schuldgefühlen, aus Hass und Trauer. Aber als sie ihr Gesicht im Spiegel sah, wirkte es kalt und hart. Sie erkannte sich selbst nicht wieder.
Die Kleine mit einer Hand in die Babyschale zu legen, war
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