Gnade deiner Seele: Psychothriller (German Edition)
Vater. Willow wusste das, denn Bethany sprach ständig von ihm. Dass er wunderschön gesungen habe, dass er ständig herumgealbert und sie zum Lachen gebracht habe, dass er kochen konnte, dass er gern las und lange vor ihrem ersten Roman überzeugt war, dass Bethany es als Autorin schaffen würde. Willow wusste all das und konnte den Blick ihrer Mutter nicht mehr ertragen.
Es tut mir leid, Mom , wollte sie sagen, es tut mir so leid . Ihre Mutter hätte die Entschuldigung angenommen und für den Rest des Abends einen heiteren Gesichtsausdruck aufgesetzt. Später hätten sie darüber geredet. Aber Willow entschuldigte sich nicht, sondern starrte auf ihren Teller und stocherte im Senfkohl herum. Sie hatte plötzlich keinen Hunger mehr.
Der tagelange feine Nieselregen war in einen Starkregen übergegangen. Die Tropfen klatschten so laut gegen das Dach und die Fenster, dass sie wie Schritte klangen.
»Wow, es gießt«, sagte Mr. Ivy. Er räusperte sich, rieb sich die Schläfen. Offenbar litt er unter Kopfschmerzen.
»Ja, tatsächlich«, sagte Bethany. Sie klammerte sich an dem Satz fest wie eine Ertrinkende. Ihre Stimme klang schwach und gepresst.
Willow ließ das schwere Silberbesteck auf den Teller fallen und schob ihren Stuhl zurück.
»Darf ich aufstehen?«, fragte sie.
Ihre Mutter warf ihr einen finsteren Blick zu.
»Bitte sehr, Willow.«
Willow stampfte so laut wie möglich hinaus. Sie tat so, als springe sie die Treppe hinauf, und dann schlich sie an die Tür zurück, um zu lauschen.
»Tut mir wirklich leid, Henry«, sagte Bethany nach einer Weile.
»Nein, Sie brauchen sich nicht zu entschuldigen. Wirklich nicht. Ich verstehe schon.«
»Es ist meine Schuld. Ich hätte es ihr schonender beibringen müssen. Ich weiß nicht, was ich mir dabei gedacht habe.«
»Vielleicht dachten Sie, wir würden zu dritt einen schönen Abend verbringen«, sagte er in tröstlichem Tonfall.
»Ich hatte es gehofft.«
»Soll ich gehen?«
Willow hörte ihre Mutter seufzen.
Ja! Ja! Hau ab und komm nie wieder.
»Wissen Sie, ich kann verstehen, wenn Sie lieber gehen möchten. Und wahrscheinlich sollte ich Sie tatsächlich darum bitten, Willow zuliebe. Aber eigentlich möchte ich, dass Sie bleiben. Ich sehe nicht ein, wieso ich Willows unmögliches Benehmen auch noch belohnen sollte. Ich weiß, sie hatte es nicht leicht, aber ich finde, es ist an der Zeit, erwachsen zu werden.«
Stille. Sicher berührten die zwei sich, Willow konnte es spüren. Vielleicht hielten sie Händchen. Oder, Gott behüte, sie küssten sich!
»Ich würde gern bleiben«, sagte er schließlich. »Kann ich beim Abräumen behilflich sein?«
Willow wäre am liebsten in Wutgeheul ausgebrochen. Stattdessen schlich sie in ihr Zimmer hinauf. Sie warf sich aufs Bett und fing an zu weinen. Sie wusste nicht einmal, worüber sie sich so aufregte. Als sie sich ausgeheult hatte, blieb sie reglos auf dem Bett liegen. Sie hasste ihre Mutter, sie hasste The Hollows, sie hasste ihr ganzes elendes Leben. Gab es jemanden auf dieser Welt, der noch schlechter dran war als sie? Wohl kaum.
Der Regen trommelte an die Fensterscheibe. Das Geräusch war traurig und gruselig, also schaltete Willow den Fernseher ein. Der Kabelanschluss war ausgefallen. Natürlich. Sie pfefferte die Fernbedienung in die Ecke, wo sie lautlos in einem Berg Schmutzwäsche verschwand, den sie eigentlich vor dem Essen hätte weggeräumen sollen. Willow setzte sich auf. Sie tat sich unendlich leid und fühlte sich eingesperrt. Da sah sie unter dem Fenster etwas aufblitzen. Ein rhythmisches Blinken – Licht an, Licht aus.
Willow trat ans Fenster und schaute hinunter. Im trüben Licht der Verandalampe erkannte sie Cole und Jolie, die unter einem riesigen Regenschirm standen. Cole hielt die Taschenlampe, Jolie den Schirm. Sie lächelte ihr unwiderstehliches Lächeln. Es versprach Spaß und Aufregung, mochte das restliche Leben noch so trostlos sein. Und Cole war auch dabei. Sein Lächeln versprach noch mehr. Willow winkte, hob den Zeigefinger. Sie kramte ihren Regenmantel heraus und schlich die Treppe hinunter. Sie konnte ihre Mutter und Mr. Ivy lachen hören. Sie verspürte nicht den Hauch eines schlechten Gewissens, als sie zur Haustür hinausschlüpfte.
»Wie kommt es, dass Sie nie geheiratet haben, Mr. Ivy?« Bethany schwankte zwischen »Henry« und »Mr. Ivy«. Er mochte es, wie sie seinen Namen aussprach. Normalerweise störte und verunsicherte die Frage ihn, aber Bethany schien ein offener,
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