Gnade deiner Seele: Psychothriller (German Edition)
winziges Rasenstück, auf dem bekiffte, kichernde Teenager herumtrampelten. Es kam Willow respektlos und arrogant vor, und sicherlich hätte ihre Mutter streng die Stirn gerunzelt. Blieb von einem Menschenleben nicht mehr übrig?
Aber Jolie gefiel es auf dem Friedhof. Als sie sich auf die Vortreppe des alten Häuschens setzte, setzte Willow sich daneben. Sie wollte nicht, dass Jolie sie für eine feige Streberin hielt. Jolies Urteil war hart und in Stein gemeißelt: Jayne war eine Schlampe, Chloe dumm wie Brot, Ashley eine Zicke. Willow hingegen schien sie bislang für ganz cool zu halten, und Willow wollte, dass das so blieb.
Jolie zog ein Feuerzeug und eine Metallklammer heraus, an der ein Joint steckte. Willow spürte, wie die kalte Luft ihr in Wangen und Nase und Fingerspitzen biss.
Jolie zuckte wie zur Entschuldigung die Achseln.
»Mehr konnte ich ihm nicht abringen.« Sie sprach von ihrem Bruder.
Willow war es egal. Sie brauchte kaum einen Zug, um high zu werden. Jolie zündete den Joint an und nahm einen tiefen Zug, bevor sie ihn an Willow weiterreichte. Willow schmeckte nichts als verbranntes Papier und spürte die Hitze an den Lippen. Sie versuchte trotzdem, auf Lunge zu rauchen. Nur die totalen Versager konnten das nicht. Sie spürte ein Brennen in der Kehle, aber statt dem ersehnten Gefühl stellte sich nur Übelkeit ein, und Willow erinnerte sich, dass sie seit dem Frühstück nichts mehr gegessen hatte. Sie lehnte sich an Jolie an, und durch den Qualm sah sie plötzlich eine dunkle Gestalt, die sich auf sie zubewegte.
»Das ist er«, sagte Jolie.
»Wer?«
»Der Typ, den du kennenlernen sollst. Cole. Er ist ein Freund meines Bruders.«
Willow sah, wie der schlaksige Junge sich langsam näherte. Sein Gang erinnerte sie an den eines Wolfes, leicht und lautlos, aber hochkonzentriert. Hoch oben in den Bäumen sang eine Meise. Im Gegensatz zum chaotischen Gezwitscher der anderen Vögel klang ihr Ruf beinahe menschlich, so als bitte sie um Aufmerksamkeit.
»Gefällt er dir?«, fragte Willow.
»Nee, auf keinen Fall. Viel zu jung.«
Willow wusste, dass Jolie mit älteren Jungs ausging, manche stammten aus Nachbarorten. Zumindest erzählte Jolie ihr das. Jolie wirkte immer ein bisschen so, als sei sie für ihr Alter viel zu erfahren. Als habe sie Sachen gemacht, die Mädchen in ihrem Alter noch nicht machen sollten. Willow fand das irgendwie traurig, obwohl ihr Jolie deswegen umso cooler und erwachsener vorkam. Sie hat alte Augen , hatte Willows Mutter einmal gesagt. Und obwohl Willow nicht genau wusste, was das bedeutete, verstand sie.
»Ich dachte, vielleicht gefällt er dir?«, sagte Jolie. Sie klang wehmütig, so als biete sie der Freundin etwas an, von dem sie sich eigentlich nicht trennen wollte.
»Warum?«
Jolie antwortete nicht sofort, sondern starrte auf ihre schlanken Unterschenkel, die sie von sich streckte. Ihre schwarze Strumpfhose hatte an der Seite eine riesige Laufmasche. Sie sagte:
»Nur so ein Gefühl.«
Willow sah in Jolies Augen, die in der Nachmittagssonne unfassbar grün strahlten. Sie fingen beide grundlos an zu lachen.
»Er ist echt nett«, brachte Jolie zwischen zwei Lachsalven heraus, »so wie du.« Das Du ging fast in einem brüllenden Lachen unter.
Willow beugte sich vor und drückte die Knie aneinander, um sich nicht in die Hose zu machen. Selbst in diesem Moment der Überdrehtheit fragte sie sich, ob es okay war, »nett« zu sein. War das etwas Positives? Und war sie wirklich nett?
»Was gibt es zu lachen?«
Er hob sich als dunkler Umriss, als Schatten vor der Sonne ab. Willow hob eine Hand, um sich die Augen abzuschirmen. Und dann spürte sie ein Ziehen im Unterleib. Wenn sie sich einen Jungen hätte ausdenken müssen, den idealen Freund – und sie hatte das schon oft getan –, hätte sie sich keinen schöneren Menschen vorstellen können als Cole. Das Lachen blieb ihr im Hals stecken, und sie starrte ihm ins Gesicht, während er schüchtern zurücklächelte.
»Seid ihr bekifft?«, fragte er.
Jolie riss sich zusammen, um für eine Sekunde aufrichtig empört zu klingen.
»Nein«, sagte sie, »natürlich nicht.« Dann musste sie wieder lachen.
Cole schaute in den Himmel hinauf.
»Ich werde deinem Bruder erzählen, dass du sein Gras geklaut hast.«
»Nein, das würdest du nie tun!«
Willow sah an der Art, wie er und Jolie sich angrinsten, dass sie ihn voll und ganz in ihren Bann gezogen hatte. Als seine nussbraunen Augen sich wieder Willow zuwandten,
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