Gnade deiner Seele: Psychothriller (German Edition)
Lebensgefahr. Auf einmal verspürte sie den dringenden Wunsch, zur Schule zurückzulaufen und in den Bus zu springen.
Cole zuckte die Achseln.
»Meine Mom ist wirklich knallhart. Spezialeinsatzkommando.«
Und da wusste Willow, dass er log. Sein Tonfall, der suchende Blick. Sie waren aus demselben Holz geschnitzt. Sie bekam Mitleid mit ihm, und dann dachte sie, dass der Ort, an dem seine Mom gerade war, wohl noch schlimmer sein musste als der Irak.
»Klingt toll«, sagte sie, »wann kommt sie zurück?«
Cole schüttelte den Kopf.
»Ich weiß es nicht.«
Der Wind nahm zu, und plötzlich musste Willow wieder an ihre Mutter denken und was sie ihr versprochen hatte. Sie stand auf und schulterte ihren Rucksack. Jolie und Cole sahen sie an. Sie lebte anders als die beiden, das wusste Willow instinktiv. Niemand kümmerte sich darum, ob Jolie oder Cole pünktlich nach Hause kamen, niemand fragte sie, wo sie herkamen, niemand rief ihretwegen in der Schulbücherei an, um sicherzustellen, dass sie wirklich dort waren. Sie wünschte, sie könnte dazugehören.
»Kommt«, sagte sie, »ich glaube, ich weiß noch, wo er gegraben hat.«
»Echt?«, fragte Jolie und drehte sich in Richtung Schule um, »es ist schon spät.«
»Keine Sorge«, warf Cole ein, »ich bringe sie rechtzeitig nach Hause.«
Willow bemerkte, wie Jolie Cole einen schiefen Blick zuwarf, während Cole Willow nicht aus den Augen ließ.
In diesem Moment hätte sie sagen können: Ich zeige es euch morgen. Ich muss jetzt los.
Sie hätte einfach gehen können, und niemand hätte sie aufgehalten. Jolie und Cole hätten den Nachmittag zusammen verbracht, denn Willow hatte bemerkt, dass Jolie ihn viel netter fand, als sie eigentlich zugeben wollte, und dass sie es bereute, Willow zu dem Treffen mitgenommen zu haben. Alle drei wussten, dass es für Willow am besten gewesen wäre, nach Hause zu gehen. Sie gehörte zu ihrer Mutter, die sie mehr als alles auf der Welt liebte. Jolie und Cole hingegen waren auf sich gestellt, aus welchem Grund auch immer.
Aber der Moment verstrich. Willow schaute in den sich verdunkelnden Himmel und dann in das Gesicht des Jungen, der sie erwartungsvoll ansah.
Und anstatt das Richtige zu sagen, sagte sie:
»Ich weiß noch, wo es ist. Es ist nicht weit. Wir haben genug Zeit.«
Sie ging los, und die beiden anderen folgten ihr in den Wald.
ZWÖLF
S eit Maggie ein Handy gekauft und es Jones aufgenötigt hatte, erhielt er ständig SMS von seinem Sohn. Das Handy piepte und vibrierte, und im nächsten Moment erhellte sich das Display: NACHRICHT VON RICKY . Oftmals fand Jones die SMS unverständlich, denn sie enthielten bizarre Abkürzungen und ihm unbekannte Initialwörter. AKLA, D? MISS U. GN 8. LOL . Was hatte das alles zu bedeuten?
Noch viel ärgerlicher war, dass er anfangs nicht gewusst hatte, wie er antworten konnte. Er wusste nicht, wie man eine Nachricht tippte und verschickte. Deswegen rief er seinen Sohn normalerweise zurück, um direkt mit ihm zu reden, was diesem aber seltsam unangenehm zu sein schien. Er hatte ständig das Gefühl, dass er seinen Jungen geweckt hatte, egal, wie spät es gerade war, oder dass er nichts Interessantes zu erzählen hatte. Erreichte er Ricky nicht telefonisch, schickte er ihm eine Mail. Aus irgendeinem Grund und trotz des seltsamen Telefonverhaltens fühlte Jones sich seinem Sohn näher, seit er ausgezogen war und studierte, als damals, als sie noch unter einem Dach gewohnt hatten. Vielleicht lag es an den vielen Kommunikationsmöglichkeiten, die sich ihnen boten. Beim persönlichen Gespräch fühlte Jones sich immer noch unbeholfen, eine anständige E-Mail bekam er jedoch hin.
Heute lautete die Nachricht: AUTO FTG, D? CW !
Jones las: IST DAS AUTO FERTIG, DAD ? Aber CW ? Immerhin gelang es ihm, den Buchstaben J (für JA ) zu tippen und zu senden, so wie Maggie es ihm gezeigt hatte. Minuten später kam die Antwort: SUPI ! Jones musste lachen. Ricky freute sich. Er freute sich, studieren zu können, er freute sich auf das Wochenende zu Hause. Der Gedanke erfüllte Jones mit Stolz, denn er hielt es für eine persönliche Leistung, sich freuen zu können, sich für das Glücklichsein zu entscheiden. Er selbst hatte es noch nicht so weit gebracht. Trotzdem war er nicht unglücklich. Außerdem, was bedeutete es überhaupt, glücklich zu sein?
Vermutlich handelte es sich um eine Vorstellung der Neuzeit. Wahrscheinlich gingen die Leute erst seit Kurzem davon aus, ein Recht auf Glück zu haben, sich
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