Gnade deiner Seele: Psychothriller (German Edition)
wünschte sie, sie wäre hübscher, cooler, so hart drauf wie Jolie. War sie aber nicht. Sie war einfach nur Willow.
»Hey«, sagte er und streckte die Hand aus, was sie dämlich fand und irgendwie süß. Wohlerzogen, wie ihre Mutter sagen würde. »Ich bin Cole.«
Sie nahm seine Hand und bemerkte auf einmal, wie silbrig der Himmel schimmerte und dass das fallende Laub ringsum goldorange leuchtete und wie hart und tot die Erde aussah, obwohl noch gar nicht Winter war. Sie sah überall hin, nur nicht in sein Gesicht.
»Ich bin Willow.«
»Ein hübscher Name.«
Sie wollte antworten, dass es sich eigentlich um einen Nachnamen handle, den ihrer Großmutter, die in den Vierzigerjahren eine berühmte Tänzerin gewesen sei. Aber das stimmte nicht. Willow presste die Lippen aufeinander, um nicht zu lügen. Dr. Cooper, die Psychologin, zu der sie seit dem Umzug nach The Hollows ging, hatte ihr Folgendes geraten: Wenn du den Drang verspürst, die Unwahrheit zu sagen, solltest du einfach versuchen, zu schweigen und die Gefühle wahrzunehmen, die dich dazu drängen. Vergiss nicht, dass du niemand anderes sein musst als du selbst. Das reicht!
»Danke.« Die Stille fühlte sich peinlich an. Willow wollte sie brechen. »Meine Mutter hat mich nach einer Figur in ihrem Lieblingsfilm benannt.« Es war die Wahrheit. Und so was von langweilig.
Er nickte langsam. »Cool.«
Dann vergrub er die Hände in den Taschen und zog die Schultern hoch. »Was wollt ihr jetzt machen?«
»Keine Ahnung«, sagte Jolie. »Willow hat nicht mehr viel Zeit.«
Falls Willow es nicht besser gewusst hätte, hätte sie gedacht, ihre Freundin wolle sie loswerden. Willow zog ihr Handy aus der Tasche und schaute auf die Zeit. Ihr blieb noch eine Stunde.
»Als ich gestern die Schule geschwänzt habe«, sagte sie, »bin ich durch den Wald nach Hause gelaufen. Ich habe einen Mann gesehen, der ein Loch gegraben hat.«
»Wirklich?«, fragte Jolie. Sie kniff die Augen zusammen und stieß Willow in die Seite. »Warum hast du mir nichts davon erzählt?«
»Ich erzähle es dir jetzt!«
Sie genoss die interessierten Blicke der anderen, während sie vor ihnen ihre Geschichte ausbreitete.
»Meine Mom sagt, er ist ein Höhlenmensch«, schloss sie.
»Ein Höhlenforscher?«, sagte Cole.
»Genau«, sagte Willow. »Er hat meiner Mutter erzählt, es gäbe hier eine alte Mine, in der womöglich ein Toter liegt. Nach dem hat er gegraben.«
»Ich habe dir doch von den Minen erzählt!«, rief Jolie. Sie klang triumphierend und vorwurfsvoll zugleich.
»An welcher Stelle hat er gegraben?«, fragte Cole, »kannst du dich erinnern?«
Am liebsten hätte Willow die anderen hingeführt und ihnen etwas Aufregendes gezeigt, aber sie wusste nicht, ob sie es zeitlich schaffen würde, die Stelle zu finden und danach den letzten Bus zu erwischen. Falls sie zu spät nach Hause kam oder ihre Mutter anrufen musste, wollte sie lieber nicht wissen, welche Strafe sie erwartete.
»Ich darf den Bus nicht verpassen«, sagte sie, obwohl es ihr unendlich leidtat. »Lasst uns morgen hingehen.«
»Ich bringe dich nach Hause, bevor deine Mutter was merkt«, sagte Cole. »Versprochen.«
»Er hat ein Auto«, bestätigte Jolie nickend. Nun sendete sie zweideutige Signale aus. Wollte sie Willow nun wegschicken oder zum Bleiben überreden?
»Einen BMW «, fügte sie hinzu, »sein Dad ist reich.«
Coles blasses Gesicht verfärbte sich.
»Es ist ein altes Auto. Ich darf es fahren, bis meine Mom zurückkommt. Ich wohne bei ihm, bis sie mich abholt.«
Er klang seltsam bedrückt, und die roten Flecken breiteten sich bis auf seinen Hals aus. Willow reagierte sofort darauf, irgendetwas stimmte nicht.
»Wo ist sie?«, sagte sie und bereute die Frage im selben Moment. Sie hätte den Mund halten sollen.
Cole räusperte sich und starrte auf seine Schuhspitzen.
»Meine Mom ist im Irak. Sie ist beim Militär.«
Wieder kniff Jolie die Augen zusammen und legte den Kopf in den Nacken.
» Das wusste ich auch nicht. Wie kommt es, dass mir keiner was erzählt?«
»Ich erzähle es dir jetzt«, sagte Cole und wiederholte damit Willows Worte. Er lächelte, und Willow wusste, dieses Lächeln galt ihr allein. Jolie zog eine Schnute. Aus den Augenwinkeln sah Willow, wie ihre Freundin in sich zusammensackte.
»Wow«, sagte sie, »das muss ganz schön anstrengend sein. Und gefährlich.«
Sie konnte sich nicht vorstellen, dass ihre eigene Mutter jemals so weit weg sein und sich in Gefahr begeben würde – in
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