Gnade deiner Seele: Psychothriller (German Edition)
helfen?«
»Ich werde ein paar Leute anrufen. Mehr kann ich wohl nicht für Sie tun.«
Er klappte den Notizblock auf und blätterte darin herum. Eine Einkaufsliste für das Home Depot, das Nummernschild eines verdächtigen Autos, das er ein paarmal in seiner Straße beobachtet hatte, eine Liste von Dingen, die Maggie brauchte.
»Und Ihr Honorar?«, fragte sie.
»Machen Sie sich darüber keine Gedanken«, sagte er und hob die Hand. Er mochte es nicht, wenn die Leute ihm Geld anboten. Dann fühlte er sich billig. »Falls ich Ausgaben habe, können Sie die ersetzen. Und ich würde Sie fragen, bevor ich etwas ausgebe.«
»Danke, Mr. Cooper. Vielen herzlichen Dank.«
»Ich brauche ihren Vor- und Nachnamen, den letzten offiziellen Wohnsitz, die Telefon- und, falls bekannt, die Sozialversicherungsnummer. Die Adressen ihres letzten Arbeitgebers und die ihrer Freunde. Damit müsste ich etwas anfangen können.«
»Okay. Ich werde Ihnen aufschreiben, was ich weiß.« Paula stand hastig auf und ging aus dem Zimmer.
»Ich kann Ihnen nichts versprechen, Mrs. Carr«, rief er ihr nach.
»Ich weiß«, rief sie zurück, »ist schon klar.«
Und während er im sonnigen Esszimmer in seinen Mantel schlüpfte, fiel ihm auf, wie leicht ihm das alles fiel, wie selbstverständlich es sich anfühlte. Er hatte gar nicht wahrgenommen, wie nervös er an den Tagen war, an denen er nichts zu tun hatte, wie sehr ihn das stille, leere Haus und die lange Liste der banalen Aufgaben belasteten. Zum ersten Mal seit einem Jahr, vielleicht sogar noch länger, war er richtig glücklich.
ELF
E ineinhalb Kilometer von der Schule entfernt, am Ende einer kurvigen Schotterstraße, lag ein alter, von einer niedrigen Bruchsteinmauer umsäumter Friedhof. Jolie war schon früher mit Willow hierhergekommen; sie hatten sich einen halben, zerknitterten Joint geteilt, den Jolie ihrem Bruder aus der Jackentasche geklaut hatte. Benebelt und kichernd waren sie zwischen den schiefen Grabsteinen herumgetorkelt und hatten sich die verblichenen Namen und traurigen Inschriften angesehen:
ANNABELLE LENIK, GELIEBTE TOCHTER,
GEBOREN 1912, GESTORBEN 1914.
SIE SINGT MIT DEN ENGELN.
SAMUEL ABRAMS, ERGEBENER GATTE, VATER UND SOHN,
GEBOREN 1918, GESTORBEN 1948.
ER HAT SEINE EHRENVOLLE PFLICHT
MIT HINGABE ERFÜLLT.
Es gab noch viele andere – einige Inschriften waren so verwittert, dass man sie nicht mehr entziffern konnte, manche Gräber unter Unkraut verschwunden. Beim ersten Besuch fand Willow den Ort eher traurig als unheimlich. Am nördlichen Ende stand ein altes, windschiefes Holzhaus mit vernagelten Fenstern und Vorhängeschloss an der Tür. Ein Schild warnte, das Gebäude sei einsturzgefährdet.
»Da drin spukt es«, hatte Jolie gesagt.
»Klar«, war Willows Antwort gewesen.
»Nein, im Ernst. Der Friedhofswächter hat sich dort das Leben genommen.«
»Wirklich?«
»Vor zwei Jahren«, sagte Jolie. Willow wartete auf ein schelmisches Grinsen, aber Jolie verzog keine Miene. »Seither hat sich keiner gefunden, der den Job übernehmen wollte. Deswegen verfällt hier alles.«
Jolie hatte gegen eine Bierdose getreten, die scheppernd gegen einen schiefen Grabstein flog. Im selben Moment verspürte Willow einen eisigen Hauch im Nacken.
»Er hat sich erschossen. Und seine potenziellen Nachfolger sind seinem Geist begegnet, der über den Friedhof läuft und sein Gehirn einsammelt.« Sie sprach mit einem ernsten Tonfall.
»Ach, komm«, sagte Willow. Aber das Bild ließ sie nicht mehr los. Plötzlich fing Jolie wie eine Irre zu lächeln an. Willow lachte nervös auf.
»Ach, komm«, wiederholte sie. Sie wollte nur noch weg, ihr Mut hatte sie verlassen.
»Ganz schön kranke Geschichte, oder?«
Wie sich herausstellte, hatte Jolie Willow nicht bloß Angst einjagen wollen. Nachdem Willow an dem Abend nach Hause gekommen war, hatte sie die Geschichte gegoogelt. Jolie hatte in allen Punkten die Wahrheit gesagt, es stimmte sogar, dass bis heute niemand die Stelle antreten wollte und der historische Friedhof unter nächtlichem Vandalismus litt. Seither musste Willow jedes Mal, wenn sie mit ihrer Mutter dort vorbeifuhr, den Atem anhalten. Die Toten versuchen, einem den Atem auszusaugen. Hatte ihr das nicht einmal jemand erzählt?
Willow war nicht begeistert, dass sie wieder hierhergegangen waren. Schon beim ersten Mal hatte sie ein schlechtes Gefühl gehabt, selbst bevor sie Jolies Gruselgeschichte gehört hatte. So viele Schicksale, von denen nichts geblieben war als ein
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