Gnade deiner Seele: Psychothriller (German Edition)
machen. Warum auch nicht?
»Das weiß ich nicht«, antwortete sie, »aber wenn eine Frau mitten in der Nacht durch einen Wald rennt, geht das in den seltensten Fällen gut für sie aus.«
»Dann ist sie tot?«
»Vielleicht«, sagte Eloise, »vielleicht auch nicht.«
»Aber wenn Sie Visionen von ihr haben, bedeutet das doch, dass sie verstorben ist, im Jenseits, was auch immer.«
Eloise lächelte schwach.
»Sie klingen wie einer meiner Anhänger. Sie glauben, ich würde mit den Toten reden?«
»Tun Sie das nicht?«
»Ich habe Ihnen schon einmal erklärt, dass es ist wie mit einem Radio. Ich schnappe Signale auf, Energieflüsse. Manchmal Geräusche, manchmal Bilder, manchmal sehe ich Menschen. Es sind immer Frauen oder Mädchen. Sie haben sich verlaufen, sie wurden misshandelt und sind verletzt. Nicht alle sind tot. Ein Mädchen wurde lebend aus einem Brunnenschacht gerettet. Ich konnte sie atmen hören, und die Wassertropfen. Sie stand unter Schock. Eine andere wurde in einem Schuppen gefangen gehalten, ich habe sie stundenlang um Hilfe schreien hören. Irgendwann war ich zum Glück nicht mehr die Einzige, die sie hörte.«
»Zurück zu Marla Holt. Auf einmal hatten Sie eine Vision von ihr, wie sie durch den Wald rennt. Sie hatte Angst.«
»Und sie war traurig, so unendlich traurig. Ich habe auch Stimmen gehört. Männerstimmen.«
»Mehrere?«
»Ja. Fragen Sie nicht, was sie riefen, ich habe es nicht verstanden.«
»Natürlich nicht«, sagte Jones. Wozu sollte sie auch etwas gehört haben, das ihm von Nutzen sein könnte?
»Kannten Sie Marla Holt?«, fragte er. Er wusste die Antwort, wollte es Eloise aber leichter machen, den Einstieg zu finden.
Sie antwortete leise und zögerlich.
»Ich habe manchmal auf Michael und Cara aufgepasst. Manchmal habe ich Marla im Haushalt geholfen. Damals habe ich mit solchen Jobs meinen Lebensunterhalt verdient. Aber das war Jahre vor ihrem Verschwinden.«
»Was wissen Sie noch von ihr?«
»Sie war eine begeisterte und liebevolle Mutter. Wissen Sie, nicht jede ist dazu geboren, Mutter zu sein. Nicht jede ist es gern. Sie hat ihre Kinder vergöttert und jede Sekunde mit ihnen genossen. Manchmal hat sie mich angerufen, damit ich auf die Kinder aufpasse und sie zum Sport gehen kann. Sie hat immer sehr auf ihr Gewicht geachtet. Aber sie war schön. Sie haben recht. Sie war zu schön für diesen Ort.«
So wörtlich hatte Jones das gar nicht gemeint. Er hatte damit nur sagen wollen, dass Marla Holt nach Hollywood oder New York hätte gehen können.
»Und ihren Mann hat sie auch geliebt«, fuhr Eloise fort. »Wenigstens war es so, als ich die Familie kennenlernte. Sie hat ständig von ihm geredet. Ich glaube, er war eine Art Wissenschaftler und hat viele Preise gewonnen. Er hat irgendwo als Professor unterrichtet.«
»Er war Geologe«, erklärte Jones, »und hat am College unterrichtet.«
»Stimmt«, sagte Eloise. Ihre Armbanduhr fing zu piepen an. Sie warf einen Blick darauf, stand auf und ging zum Fenster. Sie wählte ein Pillenfläschchen aus, nahm zwei Tabletten heraus, schenkte sich ein Glas Wasser ein und schluckte sie hinunter.
»Alles in Ordnung?«, fragte Jones.
»Ich werde bloß alt«, sagte Eloise.
Jones bezweifelte diese Aussage, andererseits ging es ihn nichts an. Er sah zu, wie sie das Fläschchen in die Reihe zurückstellte und es versonnen betrachtete.
»Dann rollt die Polizei den Fall neu auf?«, fragte sie schließlich.
Jones zuckte die Achseln.
»Ich weiß nicht, was genau die vorhaben. Chuck Ferrigno hat mich gebeten, meine alten Aufzeichnungen noch einmal durchzugehen, mit Ihnen und Ray Muldune zu sprechen und mich an alle Details zu erinnern. Vielleicht lohnt es sich ja, neu zu ermitteln.«
»Und woran können Sie sich erinnern?«
»Ich weiß noch, dass ich damals den Eindruck hatte, die Nachbarin würde uns etwas verschweigen. Eine Sache fand ich verdächtig. Marla Holt hatte ihren Schmuck nicht mitgenommen, dabei machte es den Eindruck, als habe sie viel Zeit und Mühe in die Sammlung gesteckt. Außerdem hätte sie ihn problemlos mitnehmen können.«
Eloise zog die Augenbrauen hoch.
»Finden Sie es nicht noch viel seltsamer, dass sie ihre Kinder nicht mitgenommen hat? Normalerweise lässt keine Mutter ihre Kinder zurück.«
»Es sei denn, ihr neuer Freund eignete sich nicht als Stiefvater.«
Jones lehnte sich zurück. Im Laufe seiner Karriere hatte er jede Menge Mütter kennengelernt, die ihre Kinder zurückgelassen hatten. Babies
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