Gnade deiner Seele: Psychothriller (German Edition)
besonders schwer, den wöchentlichen Alibi-Anruf ihres Ex-Mannes zu ertragen. Das Gespräch mit Henry Ivy hatte sie aus der Bahn geworfen, und sie bereute es, dass sie Willow erlaubt hatte, nach der Schule in die Bücherei zu gehen. Immer wieder schaute sie auf die Uhr. Sie unterdrückte den Impuls, noch einmal in der Bücherei anzurufen. So eine Mom wollte sie nicht sein. Einmal anzurufen war okay, zweimal war paranoid. Der letzte Schulbus kam um 16.35 Uhr. Man konnte ihn vom Wohnzimmerfenster aus nicht sehen, aber hören, wenn der Fernseher nicht lief und man aufmerksam lauschte. Und das tat Bethany.
»Sie lebt sich ein.«
»Sie hat doch hoffentlich keine Probleme?«
»Und selbst wenn, geht es dich nichts mehr an.« Bethany konnte ihre Gereiztheit nicht verhehlen. Der Unterton schlich sich ein wie ein skrupelloser Einbrecher mit gezückter Klinge. Normalerweise giftete Richard zurück und das Gespräch eskalierte zu einer verbalen Keilerei, bis einer von ihnen auflegte. Willow zuliebe versuchten sie es dann in der nächsten Woche erneut. Aber diesmal überraschte er sie.
»Ihr seid mir wichtig, Bethany. Du bist wichtig. Und Willow auch. Es mag dir anders vorkommen, aber genauso ist es.«
Sie spürte ihren Widerstand dahinschmelzen. Und dann verstand sie. Fräulein Wie-hieß-sie gleich, Miss Doppel-D, hatte sich aus dem Staub gemacht. Sie hatte kapiert, dass kein Dressman-Aussehen und kein Geld der Welt aufwiegen konnten, was Richard fehlte. Richard Coben sah fantastisch aus. Obwohl er stramm auf die sechzig zuging, war er körperlich fitter als viele Männer, die halb so alt waren wie er. Seine grauen Schläfen ließen ihn interessant und weltgewandt wirken. Er durchbohrte die Frauen mit seinem eisblauen Blick und schien ihre geheimsten Wünsche erraten zu können. Der erste Akt war spektakulär – Rosen und Kerzenschein, Kurztrips nach Paris. Die Mädchen fielen darauf herein, so wie Bethany damals. Aber keine blieb länger.
»Brenda ist ausgezogen?«, fragte sie. Sie kannte Richard zu lange, als dass sie um den heißen Brei herumredete.
Er seufzte auf.
»Ja. Wir haben nicht zusammengepasst.«
Er war kein schlechter Kerl. Er war nicht einmal ein Schuft. Ja, er war oberflächlich und untreu. Er interessierte sich nur für seine Arbeit und sich selbst. Aber sein schlimmster Fehler war, dass er seine Versprechen und Schwüre nicht hielt. Wenn es darauf ankam, war er nicht da. Für seine Freundinnen war das enttäuschend, für seine Frau schmerzlich, für das Kind niederschmetternd.
Und was ist mit der Wohnung, dem Ring an deinem Finger, unserem letzten Urlaub auf St. Lucia? Reicht dir das nicht?
Nein, das reicht mir nicht ansatzweise! All das bedeutet gar nichts. Wir brauchen nichts davon. Wir brauchen nur dich!
Richard hatte das nie verstanden, und allem Anschein nach würde er es nie verstehen.
»Weißt du, wie sie mich genannt hat?«, fragte er. »Einen Gefühlskastraten.«
»Wow«, sagte Bethany. Sie war dankbar, ihr Lächeln nicht verstecken zu müssen. »Ein großes Wort für eine Frau wie Brenda. Ihr habt euch in Vegas kennengelernt, richtig? War sie eine Kellnerin?«
»Sehr komisch, Beth. Sie war Tänzerin. Keine Stripperin, sondern ein Showgirl.«
»Oh, entschuldige.« Bethany trat an die riesige Panoramascheibe im Wohnzimmer und starrte auf die Baumwipfel. Nun, da die Bäume ihr Laub abwarfen, konnte sie teilweise die Straße erkennen. Der Bus war nirgends zu sehen.
»Dafür braucht man eine enorme Kondition. Sie ist sehr talentiert«, fuhr Richard fort. Bethany kannte diesen eingeschnappten Ton. Früher hatte sie sich darüber geärgert.
»Bestimmt«, sagte sie. »Und sehr gelenkig!«
Nun, da sie nicht mehr mit Richard verheiratet war und er sie nicht länger verletzen konnte, mochte sie ihn ganz gern. Manchmal fand sie ihn sogar amüsant, so wie jetzt. Sie würde ihn nicht als Gefühlskastraten bezeichnen. Diese Bezeichnung war wirklich lustig, aber zu schroff. Richard war vielmehr emotional zurückgeblieben, er war wie ein von seinen Begierden gesteuertes Kleinkind, das sich alles Schöne und Glänzende in den Mund stecken wollte, ohne sich der Konsequenzen bewusst zu sein. Eigentlich kein Wunder, wenn man seine Eltern kannte. Seine Mutter Joan war eine überehrgeizige, viel zu nachsichtige Mutter gewesen, die sich von ihrem Mann wie ein Fußabtreter behandeln ließ. Sein Vater, Richard senior, ein berühmter Herzchirurg, war dem Sohn gegenüber stets überkritisch, anspruchsvoll und
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