Gnade deiner Seele: Psychothriller (German Edition)
distanziert. Er konnte in einen geöffneten Brustkorb hineingreifen und ein Herz zu neuem Leben erwecken, eine Fähigkeit, mit der er bei jeder Gelegenheit prahlte. Der reinste Gotteskomplex! Im Grunde hätte Richard noch viel missratener sein können. Statt eines Schönheitschirurgen hätte ein Soziopath oder Serienmörder aus ihm werden können.
»Das ist nicht lustig, Beth.«
»Nein, entschuldige bitte. Tut mir leid.«
»Warum werde ich immer verlassen?«
»Oh, Rich.«
Es stimmte. Sogar Bethany hatte ihn verlassen; aber nur, weil er ihr keine Wahl gelassen hatte. Untreue macht alles kaputt, ganz besonders, wenn ein Kind im Spiel ist. Bethany wollte nicht, dass Willow so etwas vorgelebt wurde. Außerdem war Richard ein denkbar ungeeigneter Stiefvater. Er war nie zu Hause und brach alle großen und kleinen Versprechen. Wann machte er sich das endlich klar?
Bethany wünschte – falls man ein Verlangen, das man als stechenden Schmerz in der Brust wahrnimmt, noch als Wunsch bezeichnen kann –, Willow hätte ihren leiblichen Vater kennengelernt. Wie sehr hätten die zwei sich geliebt! Wie anders wäre ihr und Willows Leben verlaufen. Die Erinnerung an ein Jahrzehnt des Kummers und der Enttäuschungen schnürte Bethany die Kehle zu. Sie wagte es nicht mehr, den Mund aufzumachen, weil sie fürchtete, ihre Stimme könnte versagen. Sie schwiegen sich am Telefon an, während Beth an all die Beschimpfungen dachte, die sie Richard an den Kopf geworfen hatte.
»Alles okay, Beth?«
»Klar«, flüsterte sie, »alles bestens.«
»Kann ich Willow am Wochenende besuchen? Ich vermisse euch.«
»Vielleicht. Mal sehen.« Sie musste zuerst Willow fragen. Vielleicht würde sie sich sogar freuen. »Ich rufe dich morgen zurück.«
Sie hörte den Bus rumpeln und zischen, konnte sogar das leuchtend gelbe Dach durch die Blätter erkennen. Richard sprach von seinem Besuch und dass er ihnen ihr Lieblingsessen von Zabar’s mitbringen könnte. Sie würden im Wald spazieren gehen und zu Hause kochen. Natürlich würde er nicht über Nacht bleiben. Richard konnte nicht allein sein, deswegen würden sie ihn nun öfter zu Gesicht bekommen – bis er eine neue Freundin hatte. Bethany fand sich in Willows Interesse damit ab. Richard war der einzige Dad, den Willow je kennengelernt hatte. Bethany hörte kaum zu, sondern lauschte auf den Bus, der auf der Straße kurz anhielt und dann weiterrumpelte.
»Der Schulbus ist gekommen. Ich werde Willow entgegengehen, damit sie nicht allein durch den Wald läuft. Ich rufe dich morgen an.«
Bethany sprang aus der Haustür und lief über den Kies. Die Einfahrt war lang und gewunden. Wäre sie nicht am Telefon gewesen, hätte sie den Land Cruiser genommen und unten an der Straße auf den Bus gewartet. Aber ein Spaziergang würde ihr guttun. Sie schätzte, dass sie ihrer Tochter auf halber Strecke begegnen würde, traf aber niemanden. Bethany lief weiter, hörte in der Ferne ein paar Mädchen lachen. Wahrscheinlich verspätete Willow sich, weil sie noch mit den Zwillingen vom Nachbargrundstück plauderte. Die Häuser standen Hunderte von Metern voneinander entfernt, aber die Einfahrten und die Briefkästen lagen direkt nebeneinander. An dieser Stelle stiegen mehrere Kinder aus – Willow, die Zwillinge Madison und Skylar, Carlos, dessen Vater Kunstmaler war, und ein weiteres Mädchen namens Amy oder Ava, Bethany wusste den Namen nicht mehr.
Als sie die Straße erreichte, sah sie Madison (oder Skylar, wer konnte es schon wissen?) und ihre Schwester tuscheln und kichern. »Was für ein Idiot, ich fass es nicht«, sagte eine von ihnen. Die Mädchen kehrten ihr den Rücken zu, deswegen wusste Bethany nicht, wer gerade sprach.
»Hallo!«
»Hallo, Mrs. Graves«, sagten die Mädchen wie aus einem Mund. Madison lächelte süß. Ihre Schwester schlug schüchtern die Augen nieder. Keine Willow.
Bethany schaute die Einfahrt hoch, obwohl ihr klar war, dass sie Willow auf dem Weg herunter unmöglich verpasst haben konnte.
»War Willow nicht im Bus?«, fragte sie. Sie versuchte, locker zu klingen, aber schon hörte sie das Blut in ihren Ohren rauschen.
»Hmmm … nein«, sagte die blondgelockte, rotwangige Madison und riss die braunen Augen auf. »Und in der Warteschlange habe ich sie auch nicht gesehen.«
Madison sagte noch etwas, aber Bethany hörte nicht mehr zu. Sie war schon wieder auf dem Rückweg. Wie ferngesteuert marschierte sie zum Haus hinauf, schnappte sich ihre Handtasche und das Handy. Sie
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