Gnade deiner Seele: Psychothriller (German Edition)
jemanden, der sich lediglich nach seiner Laufpartnerin erkundigen wollte, nicht wahr?
»Wäre nett, wenn du einmal nachforschen könntest, Henry. Vermutlich wird die Kriminalpolizei den Fall wieder aufrollen. Und selbst wenn nicht – der Junge hat Eloise Montgomery und Ray Muldune eingeschaltet.«
Da war es. Henry blinzelte langsam, ein Schatten huschte über sein Gesicht.
»Okay«, sagte er. Er kniff die Lippen zusammen und nickte kurz. »Ich werde mich drum kümmern.«
Aus der Ferne hörten sie ein Donnergrollen, ungewöhnlich für diese Jahreszeit.
»Angeblich soll es Regen geben«, sagte Henry.
»Ach, wirklich?« Die beiden Männer starrten zum Himmel hinauf. Es war schon fast dunkel.
»Ja, heftigen Regen.«
»Tja«, sagte Jones, »bleib’ trocken!«
Henry drehte sich um und marschierte eilig davon. Eigentlich hatte Jones keine Lust darauf, hier draußen allein zu sein. Er hatte eine Taschenlampe dabei, aber anders als früher keine Waffe. Nicht, dass er sich gefürchtet hätte, aber in The Hollows bekam man eine gehörige Portion Respekt vor dem Wald mit, und die Warnungen und Schauergeschichten vergaß man nie. Als Kind hörte man nicht darauf, aber die Stimmen verstummten nie ganz und meldeten sich zurück, wenn man erwachsen war und es eigentlich besser wissen müsste.
Erst als er wieder auf der Straße stand, merkte Henry, dass er zu Fuß zur Schule zurücklaufen musste. Er war mit Bethany Graves hergekommen und hatte vorgehabt, sich von Jones Cooper zurückfahren zu lassen. Der Weg war nicht weit, höchstens einen Kilometer. Aber wieder einmal beschlich Henry das Gefühl, im Stich gelassen worden zu sein. Nicht, dass er sich selbst bemitleidete. Aber so schien es immer wieder zu laufen.
Es dämmerte, und er hielt sich am Straßenrand. Er konnte nichts hören als den Kies, der unter seinen Schuhsohlen knirschte. Er spielte mit dem Gedanken zu joggen, aber er trug immer noch seine Arbeitsklamotten. Falls jemand ihn entdeckte, würde das seltsam aussehen, und das konnte Henry Ivy auf keinen Fall gebrauchen. Allerdings hielt man ihn, den Junggesellen jenseits der fünfundvierzig, in dieser Kleinstadt ohnehin für seltsam. Oder bemitleidenswert. Oder schwul, was er nicht war.
Marla Holt hatte er an einem lauen Frühsommerabend kennengelernt. Es war einer jener besonderen Abende, die Pollen flogen und die Luft war einen Hauch wärmer als sonst zu dieser Jahreszeit. Es war so schwül, dass Henry nach den ersten dreihundert Metern nassgeschwitzt war. Die Bäume trugen schon jene hellgrün leuchtenden Blätter, die einen langen, trägen Sommer erahnen ließen. Das liebte er so an seinem Beruf – er konnte sich immer noch über die Jahreszeiten freuen. Der Sommer lockte mit heißen Tagen am Pool, mit Ausflügen an den Strand und dem festen Vorsatz, endlich den Roman zu beginnen, der ihm seit Ewigkeiten vorschwebte. Der Herbst versprach einen Neuanfang, und die Kinder kamen mit unberührten Büchern, leeren Heften, neuen Taschen und Klamotten zur Schule. Mit dem ersten Schnee kam die Vorfreude auf Weihnachten, auf die Theateraufführung und den Schulball. Henry liebte all das, und seine Begeisterung für die Höhepunkte des Schuljahres hatte nie nachgelassen, obwohl sich seine großen Träume nie erfüllt hatten. Er hatte den Roman nie geschrieben. Er hatte nie geheiratet und keine Kinder. Er hatte nichts von dem getan, was er sich vorgenommen hatte.
Sie war vor ihm hergelaufen, ganz langsam. Sie war keine geborene Joggerin, das sah er auf Anhieb. Manche Menschen sind einfach wie fürs Laufen gemacht, schlank und leicht, mit großen Lungen und kleinem, sehnigem Körper scheinen sie wie für die Geschwindigkeit geschaffen. Andere – er und die Frau, die vor ihm lief – mussten um jeden Kilometer, um jeden Schritt kämpfen. Er wurde langsamer, weil er die Frau nicht überholen wollte. Von einem leichtfüßigen Läufer überholt zu werden, war frustrierend, und im Gegensatz zu den meisten anderen Leuten wollte Henry niemandes Gefühle verletzen, nicht einmal die einer Fremden. In der nächsten Sekunde sah er sie wimmernd zu Boden gehen. Er holte sie ein und blieb neben ihr stehen.
»Alles in Ordnung?«
Sie sah zu ihm hoch und dann auf ihren Fuß.
»Danke, geht schon. Ich bin so ungeschickt und knicke ständig um.«
Er bot ihr seine Hand an, aber sie schüttelte den Kopf und rappelte sich allein auf. Sie humpelte im Kreis herum.
»Ich werde einfach gehen«, sagte sie, aber Henry konnte sehen, dass
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