Gnade deiner Seele: Psychothriller (German Edition)
sie Schmerzen hatte.
»Sie sollten den Fuß kühlen«, sagte er, »damit er nicht zu stark anschwillt.«
»Sie sind wirklich zu nett, aber es geht schon, danke.«
Er zeigte die Straße hinunter.
»Ich wohne dort drüben. Soll ich Ihnen schnell einen Eisbeutel holen?«
Sie lächelte schüchtern, und da fiel ihm zum ersten Mal auf, wie hübsch sie war. Es lag nicht nur an ihrem Gesicht, ihrer kurvigen Figur, der milchweißen Haut. Es war mehr als das. Sie reichte ihm die Hand.
»Ich weiß. Wir sind Nachbarn. Ich bin Marla Holt. Henry Ivy, richtig?«
Er ergriff ihre Hand und spürte, wie die Wärme ihn durchströmte.
»Mein Sohn Michael war neulich bei Ihnen«, sagte sie. »Sie haben ihm Süßigkeiten abgekauft, als Spende für sein Basketballteam. Ich stand am Bordstein und habe Ihnen zugewinkt.«
»Ja, stimmt«, sagte er. Er konnte sich an den Jungen erinnern, der rabenschwarze Augen hatte und für sein Alter ungewöhnlich groß war. »Natürlich.«
»Da habe ich natürlich nicht als verschwitztes Häuflein Elend am Boden gelegen.« Ihr Lachen klang glockenhell, und sie schaffte es, unschuldig und verführerisch zugleich zu wirken. Henry begleitete sie nach Hause. Und von diesem Abend an waren sie stillschweigend übereingekommen, sich auf der Straße zu treffen und ihre Runden gemeinsam zu drehen. Sie freundeten sich an. Henry wünschte, es wäre dabei geblieben.
Aber das alles war nun lange her. Hin und wieder fragte er sich, wo sie wohl steckte und mit wem sie zusammen war. Nie hätte er gedacht, dass sie ihre Kinder verlassen würde. Dann wiederum kannte er sich mit Frauen nicht sonderlich gut aus.
Er erreichte die Schule und ging in sein Büro zurück. Er packte ein paar Unterlagen ein, darunter auch die Schulakte von Willow Graves. Nachdem er sein Sprechzimmer abgeschlossen hatte und über den Korridor lief, bekam er das Gefühl, sein ganzes Leben in diesen Gängen verbracht zu haben. Er nahm sich vor, zum Sport zu gehen und später allein zu Hause zu essen, so wie fast jeden Abend.
Mit einer Frau war er schon seit Längerem nicht mehr ausgegangen. Nach der letzten, die er auf match.com kennengelernt hatte, war ihm die Lust vergangen. Obwohl sie und die vielen anderen, die er im Laufe der vergangenen Jahre über die Singlebörse getroffen hatte, nichts falsch gemacht hatten, war er immer wieder über die gezielten Falschinformationen irritiert. Er war überkorrekt, was die Beschreibung seines Äußeren, seiner Interessen, seiner Hobbys und Ansprüche betraf. Wozu sollte man lügen? Warum zeichneten die Leute ein Bild von sich, das der Überprüfung im realen Leben nicht standhielt?
Auf dem Weg zum Fitnessstudio dachte er über Jolie Marsh, Cole Carr und Willow Graves nach. Er war Lehrer und war es gewohnt, bestimmte Jugendliche im Unterricht und in den Pausen zu trennen, um Streit und Unfug zu vermeiden. Er durchschaute problematische Konstellationen auf den ersten Blick. Es lag an der Chemie. Manche Menschen ergänzten sich im positiven Sinn, andere beeinflussten einander negativ. Jolie Marsh hatte echte Probleme und benahm sich deshalb daneben, machte Ärger und brachte sich in Schwierigkeiten. Willow wollte es allen recht machen und war deswegen die perfekte Mitläuferin. Und Cole Carr? Henry hatte sich noch kein Urteil gebildet. Cole war still und ein guter Schüler. Er trieb sich mit den falschen Leuten herum, mit Jeb Marsh zum Beispiel, Jolies älterem Bruder. Jeb war einer der Jugendlichen, die Henry verloren hatte. Jeb hatte die Schule geschmissen und arbeitete nun an einer Tankstelle, wo er Gerüchten zufolge mit Gras, LSD und Ecstasy dealte.
Cole Carr hingegen war an der Hollows High noch nicht auffällig geworden. Seine Lehrer hielten ihn für intelligent und fleißig. Einige waren sogar der Meinung, Coles Leistungen könnten überragend sein, wenn er sich nur mehr anstrengen würde. Aber dazu schien der Junge keine Lust zu haben; er erfüllte die Mindestanforderungen und kam damit durch. Müsste Henry eine Einschätzung abgeben, würde er auf Probleme im Elternhaus tippen. Der Junge hatte diesen traurigen, verlorenen Blick, den Henry nur zu gut kannte.
Er fragte sich, ob es ein Fehler war, so nachsichtig mit Willow zu sein. Hatte Bethany Graves ihn über Gebühr beeinflusst? Er hatte sich tatsächlich von ihrem Ruhm blenden lassen. Immerhin lernte man nicht alle Tage eine echte Bestseller-Autorin kennen. Nein, daran hatte es nicht gelegen. Alles an ihr war ihm zauberhaft erschienen
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